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Auf der Suche nach inspirierenden Veröffentlichungen zum "anthroposophischen Ich" fand unser Redaktionsmitglied Axel Stirn im Internet einen Artikel, in dem der Autor sich auf die Suche nach dem Ich im Buddhismus gemacht hatte. Das Thema erweckte sofort sein Interesse für "Randthemen, an denen oft die Neuerungen geschehen". Nach Aufnahme des Kontaktes zum Autor kam ein reger Austausch über die Neuerstellung eines Artikels zu besagten Thema in Gang. Das Ergebnis intensiver Konzentrationen wird hier zum ersten Mal veröffentlicht. Es will einladen, den Blick über den sich leider oft schnell festigenden Tellerand mal wieder offenen Herzens zu riskieren.

Copyright © 2009 Dalai Lama Center for Peace and Education, all rights reserved. Creative Commons license


Die spirituelle Ost-West-Synthese durchzuarbeiten ist für mich eine Lebensaufgabe. Vier Jahrzehnte arbeite ich inzwischen an dem Thema. Und es ist noch lange nicht abgeschlossen. Bald wird ein ausführliches Buch über die Ergebnisse meiner Forschungen erscheinen. Eine sehr kurze Zusammenfassung zentraler Inhalte erscheint hier erstmalig auf Keime für die Zukunft. Den Redakteuren war es auch wichtig, den Autor hinter der Arbeit sehen zu können. Darum folgen zuerst einige biographische Aspekte von mir, dem Autor Thomas Schickler.


Meine kraftvolle Basis ist meine anthroposophisch-goetheanisch orientierte Verwandtschaft mit meinen Großeltern und der großzügigen Freigeistigkeit meiner Eltern. Allen voran mein Großvater Wolfgang, der mir mit vier Jahren Goethes Märchen von der Grünen Schlange schenkte.


Im Jugendalter durchlebte ich bestimmte Jahre in der Waldorfschule, studierte in Dornach Eurythmie, in Stuttgart Heileurythmie, wurde Heilpraktiker und unterstützte an einer Schule für Erziehungshilfe über 30 Jahre lang Kinder und Jugendliche und meine Kollegen.


Kaum hatte mein Studium in Dornach, in der Schweiz, begonnen, wusste ich, dass es meine Aufgabe sein wird, zur neuen Spiritualität des Westens von Asien aus Stellung zu nehmen. So bestand meine Arbeit darin, annähernd vier Jahrzehnte lang Philosophie, anthroposophische Geisteswissenschaft und östliche Spiritualität zu studieren.


Steiners Buddhismus- und Krishna-Forschung, die Namen Yogananda, Aurobindo, Prabhupāda und der 14. Dalai Lama waren mir wertvolle Stationen. Ich reiste später nach Indien, um auch von den dortigen Lehrern und Meistern Steiners Linie „Zarathustra war Schüler bei den Heiligen Rishis“ zu erkunden.


Rudolf Steiner ermöglichte mir den direkten Einstieg in die klassisch idealistische Geistesepoche. Ich lernte durch ihn schneller das Wesentliche von Schiller, Goethe, Wilhelm von Humboldt, Novalis, Schelling, Fichte, Hegel und Kant kennen. Ich fühlte mich in dem Umkreis dieser Geister gleich zu Hause. Oft mehr als in der anthroposophischen Bewegung. Auch die Lebenswerke von Lothar und Heinz Hartmut Vogel haben mich sehr geprägt.


Zur Vorbereitung auf die Reise meditierte ich mehrere Monate lang immer wieder das Pentagramm und den Siebenstern. Als ich in der Palmblattbibliothek in Südindien ankam, überreichte man mir als erstes eine Karte. Darauf war ein weißes Pentagramm zu sehen. Daneben ein Yogi mit sieben roten Punkten auf dem Körper und einer Laterne in der Hand (Der „Alte mit der Lampe“ lebte auch in Indien, bevor er in Goethes Märchen in den Westen entschwand).


Rückblickend erkenne ich, dass alles, was biografisch und an außergewöhnlichen, spirituellen Erfahrungen geschehen ist, nur dazu da war, dass ich möglichst viel Zeit haben konnte, die spirituelle Ost-West-Synthese durchzuarbeiten, durchschauen zu lernen, was bisher gewesen ist, und das wichtigste davon ins lebendige Leben überzuführen.


Eine ausführliche Kritik an Steiners neuer esoterischer Christologie mit einer umfangreicheren Untersuchung von Steiners Buddhismus-Anschauung und seinem Verständnis von Krishna werden in meinem nächsten Buch zu lesen sein. Im folgenden Artikel geht es vordergründig um den Aspekt des Ichs.


Wichtig ist mir an dieser Stelle mein tief empfundener Dank an meine Frau und an meine Kinder. Ohne ihr Interesse und ihre Hilfe wäre diese langwierige Arbeit nicht möglich gewesen.


Steiners einseitige Sichtweise


Im ersten Drittel des 20. Jahrhundert hatte die anthroposophische Geisteswissenschaft noch erklärt, dass der Buddhismus die „Form des Ichs“ verloren habe. Das, was das Abendland „Ich“ nannte, habe im „Buddhismus keinen Platz“, so Steiner 1911 in einem Vortrag (Von Jesus zu Christus, GA 131, vom 9.11.1911). Eine solche Aussage verleitet leicht dazu, den buddhistischen Ich-Begriff gänzlich miss zu verstehen und ihn, wie es im Westen heute immer noch üblich ist, negativ zu bewerten.


Rudolf Steiner kritisierte in seinen Vorträgen ausschließlich die aus der Urgemeinde Buddhas entstandene Strömung der so genannten ersten Drehung des buddhistischen Dharma-Rades. Er sprach allgemein von einer Unbrauchbarkeit dieses Impulses für die weltliche Entwicklung und unterstellte dem gesamten Buddhismus kategorisch Geschichtslosigkeit. Diese Auffassung verbreitete sich in der anthroposophischen Bewegung. Bald wertete man alle traditionellen buddhistischen Geistesströmungen als „alten Weg“, in dem noch ein „instinktives“, atavistisches Bewusstsein vorhanden sei, ab. Von der geistigen Wirklichkeit aus gesehen ist eine solche Anschauung eine Überheblichkeit des Westens.


Auch im Buddhismus gibt es verschiedene Strömungen. Der 14. Dalai Lama ist ein Vertreter des Mahāyāna-Buddhismus. In dieser Strömung war das neue Bodhisattva-Ideal mit zwei Willenstugenden, der „Freigebigkeit“ und dem „Reinkarnationsversprechen“, bereits im 1. Jahrhundert vor Christus ausgereift. Danach ist ein Bodhisattva ein Mensch der auf die Buddhaschaft (die vollkommene Erleuchtung) so lange verzichtet, bis er allen anderen Menschen geholfen hat, ihr höheres Menschsein zu verwirklichen (Dalai Lama (2004): Mitgefühl und Weisheit, Diogenes, Zürich). Die Geistesgeschichte Asiens spricht von der zweiten Drehung des buddhistischen Dharma-Rades (Rad der Lehre).


Dem gegenüber vertrat Rudolf Steiner selbst nach 2400 Jahren Entwicklungszeit im Buddhismus immer noch folgende Auffassung: „Wenn nichts weiter eingetreten wäre, als dass der große Buddha das Rad des Gesetzes hätte rollen lassen, dann würde zwar die Menschheit von jetzt ab nach 3000 Jahren auch die Fähigkeit erlangt haben, die Lehre von dem Mitleid und der Liebe zu wissen; aber etwas anderes ist es, auch die Kraft erlangt zu haben, um wirklich darinnen zu leben. Diese Fähigkeit ging von dem Christus aus.“


Einige Zeilen weiter formulierte Steiner noch stringenter: [Beim Christus-Impuls] ist „nicht nur mein Kopf angefüllt mit der Weisheit des achtgliedrigen Pfades […]“ (Steiner, R: Das Lukas-Evangelium, 5. Aufl. Vortrag vom 25. 9. 1909, S. 184 u. 190). Auch im darauf folgenden Jahr hören wir weiter: „Der Buddhist sagt sich: Bekämpfe den Drang in die Inkarnationen zu kommen, denn deine Aufgabe ist es, dich sobald als möglich frei zu machen von dem Durst nach Durchgang in den Inkarnationen […] der Buddhist hat das nicht in sich, […] was man einen Impuls nennen kann, der so stark ist, dass er immer vollkommener in uns werden kann […]“ (Steiner, R.: Das Ereignis der Christuserscheinung GA 118. Vortrag vom 15.5. 1910).


In seinem abschließenden Forschungsergebnis über die neue Aufgabe des transzendenten Buddha auf dem Planeten Mars stellte Steiner den traditionellen Buddhismus für die gesamte Zeit der Erdentwicklung unter den christlichen Fortschrittsimpuls: „Hier auf der Erde können die Menschen nur Schüler des Buddha sein, wenn sie nicht mitwollen mit dem fortgeschrittenen [christlichen] (Anmerk. d. Verf.) Teil der Erdbevölkerung.“ (St. R: Das Leben zwischen Tod und neuer Geburt, GA 141, Vortrag vom 14.1. 1913).


Bereits um die Jahrhundertwende, 1901, bekundete Rudolf Steiner, dass er die neue geistige Bewegung in Europa nicht an den „östlichen Okkultismus“ anknüpfen wolle. Doch, warum sollte sich gerade die neue, spirituelle Intelligenz im Westen von irgendeiner anderen Bewusstseinsstufe auf der Welt abgrenzen? Für eine neue Geisteswissenschaft mit einem gerade im christologischen Zusammenhang betont universellen Anspruch auf Objektivität in der Erkenntnis ist diese Haltung fragwürdig (Siehe z.B. Die okkulten Grundlagen der Bhagavad Gita GA 146, S. 74, Vortrag vom 31.5. 1913).


Wo blieb hier die „bildende Liebe“, die Vermählung „des Jünglings“ (der Menschheit) mit der „schönen Lilie“ (der intellektuellen und spirituellen Intelligenz) und die „Selbstlosigkeit“ (die in Weisheit gereifte Lebenserfahrung) der „grünen Schlange“ aus Goethes Märchen, über dessen esoterischen und exoterischen Gehalt Rudolf Steiner schon zehn Jahre lang anregende Vorträge gehalten hatte?


Das Ich im Mahāyāna-Buddhismus


Während Rudolf Steiner davon ausging, dass der Buddhismus „die Form des Ichs verloren“ habe, betont man im Mahāyāna-Buddhismus heute gerade den Formaspekt des „transzendentalen“, „bloßen Ichs“. Dieser Aspekt bleibt auch im Reinkarnationszusammenhang erhalten: „Es gibt ein bloßes Ich, ein bloßes Selbst, zu dem man die Begriffe, mein vorheriges Leben und mein zukünftiges Leben in Bezug setzen kann kann. Das bloße Ich existierte im vorherigen Leben, es existiert in diesem Leben und es wird im nächsten Leben existieren.“ Das „bloße Ich“ lebt als eine „handelnde und fühlende Person“. Je umfassender es entwickelt ist, desto aktiver entfaltet sich in ihm das „klare Licht“ des geistigen Schauens.


Der Begriff des „bloßen Ichs“ umfasst die fünf „Khandhas“, die menschlichen Persönlichkeitsmerkmale von Körper, Wahrnehmung, Empfindung, Willensregungen und Bewusstsein, einschließlich des Begriffs der „Geistesregungen“ („sankhāra“, Skrt: samskāra, „Herstellung“, „Zubereitung“). In diesem Zusammenhang verwendet man im Mahāyāna - Buddhismus sowohl den Begriff „Geist“, als auch den aus dem Geist durch denkende Tätigkeit erfassten Begriff des individuellen „bloßen Ichs“. Der Dalai Lama zählt heute in seinen Schriften selbstverständlich die Begriffe der „Wertung“ und der „Form“ zu den Persönlichkeitsmerkmalen. Auch im Buddhismus zählt die reale Person, wer man sozusagen zwischen Geist und Körper tatsächlich ist, mehr, als der durch Denken erfasste Begriff des „bloßen Ichs“ und alles, was wir damit an Vorstellungen, Wünschen, und Idealen verbinden.


Nach der Auffassung des Dalai Lama entwickelt sich jeder Mensch als ein „individueller Geist“ durch „geistigen Fortschritt“. Erst im Zustand der Buddhaschaft sind „alle negativen Eigenschaften überwunden und in positive Eigenschaften umgewandelt“. In diesem Seelen- und Geisteszustand existieren keine gröberen Ebenen des Denkens und Vorstellens mehr. Weil es für den Mahāyāna-Buddhismus also kein „bloßes Ich“ in völlig unabhängiger Eigenexistenz gibt, stellt man in dieser Geistesströmung sogar noch nach dem Erreichen der Buddhaschaft das „individuelle Ich“ in den Vordergrund.


Eine andere buddhistische Schule, die Vaibhasika-Schule aus der ursprünglichen Theravada-Richtung lehnt diese Ansicht ab. Sie lehrt, dass es keine Weiterexistenz des Ichs gibt, wenn ein Mensch die Buddhaschaft erreicht und dann zum letzten Mal stirbt. Auch im Hinduismus finden wir diese Auffassung, dass sich das individuelle Ich im Moksha (der Befreiung) auflöst (Siehe zu diesen Fragen: Dalai Lama (1996): Die Buddha-Natur, Grafing, Aquamarin).


Rudolf Steiners Reinkarnationslinie


Beschäftigen wir uns mit Rudolf Steiners Reinkarnationslinie, durchschauen wir, dass seine esoterische Christologie nicht in der gleichen Weise aus seiner über Goethe entwickelten an spiritueller Geistes- und Naturwissenschaft interessierten Aristoteles-Ader stammt. Als Wiederverkörperung Thomas von Aquins verinnerlichte er zwar Jahrzehnte lang Goethes Sichtweise, aber erst durch sein erstmals über Goethes Märchen von der Grünen Schlange neu erwecktes christologisches Interesse konnte er wieder umfassend an den inneren Impuls seiner Philosophischen Theologie im Mittelalter anknüpfen.


Dazu finden wir in den Auslegungen zu Goethes Märchen einen überaus interessanten internen Vortrag vom 8.1.1905, in dem Steiner in aller Geistestiefe wieder an seine damalige mittelalterliche Christologie anknüpfte. Dort legt er die vierte Brücke und den „Alten mit der Lampe“ (die Weltweisheit) nicht nur als „Glauben“ an sich aus, sondern stellte seinen Zuhörern die Frage, ob die Kraft der Religion nicht bereits „erleuchtend wirke“, wenn ihr der durch den „Opfertod Christi unabhängig gewordene Glaube“ entgegenkomme? Und dass die „Herrlichkeit des Glaubens“ sich erst dann „offenbare“, wenn sich „die Weisheit zum Glauben hinzugesellt.“


Auf der sachlichen Ebene gibt es im Werk Steiners wohl kaum eine interessantere Stelle, die uns den Übergang von der Philosophischen Theologie Thomas von Aquins zu der neuen Esoterischen Geisteswissenschaft anschaulicher enthüllt. Dabei wusste Rudolf Steiner selbstverständlich, dass Goethe nie an dem Glauben, sondern stets nur an dem geistigen Schauen interessiert war.


Steiners Christologie


Rudolf Steiner unterlag, meiner Auffassung nach, wie in seiner Buddhismus-Forschung, auch einer deutlichen Einseitigkeit auf dem christologisch-esoterischen Gebiet. Sie liegt kurz gesagt in der zu großen Spannweite zwischen der Katholischen Kirche, die heute noch die Frauenordination bis in alle Ewigkeit „unwiderruflich“ verweigert und der von dem wiederverkörperten Thomas von Aquin erneut viel zu vertikal strukturierten Auffassung von Christus als einem überdimensionalen „Makrokosmischen Ich“. In der Katholischen Kirche ist die natürliche Körperanlage der Frau heute zweifellos erniedrigt. In der von Steiner neu ausgestalteten esoterischen Christologie ist das höhere Weibliche, unsere höhere, geistige Anlage, in Form eines überdimensionalen Makrokosmischen Christus-Bildes ebenfalls einseitig überhöht.


Steiner begrüßte zwar zunächst ausdrücklich Goethes Kritik an der Apokalypse des Johannes, installierte danach aber, wie im Mittelalter, erneut eine Christologie, die der Menschheit auf der 6. Venus-Stufe zunächst nur eine „allerletzte unabänderlich Entscheidung“ einräumte. Doch ist nicht diese Tatsache an sich interessant (siehe Steiners Apokalypse Vorträge von 1908), sondern Steiners direkte Anknüpfung an die Christologie des wiederverkörperten Thomas von Aquin. Die Vision des Johannes war ihm so wichtig, dass er aus den sieben Sendschreiben die Bewusstseinsanlagen der sieben nachatlantischen Kulturepochen ableitete. Für ein nach Steiner „echtes Zeugnis“ eines Makrokosmischen Ichs ist das zu wenig.


Ich denke nicht, dass die bildende Liebe aus Goethes Märchen bis zur Venus-Entwicklungsstufe der Erde neben göttlicher Gesetzlichkeit und göttlicher Macht nur die dritte Geige spielen kann.


Damit stellte der 53 jährige Rudolf Steiner in Vorträgen sein gegenüber Thomas von Aquin ins nahezu Unglaubliche verfeinerte Hierarchien - Gebäude der Katholischen Kirche erneut über die freie individuelle Entwicklung, die man im Buddhismus stärker als im Christentum, aus der eigenen geistigen Erfahrung lebt.


Dieser Weg war für Rudolf Steiner insgesamt m. E. eine teilweise nicht gelungene Gratwanderung. Ein „Makrokosmisches Ich“ welches nach Steiner der zentrale Mittelpunkt der Menschheitsentwicklung ist, hätte seine mit den Ereignissen der Zeitwende ja unmittelbar verbundene Abschlussbotschaft im Sinn der Liebe zu unserer inneren und äußeren Freiheit und der Selbstlosigkeit spätestens ab dem sechsten Sendbrief konstruktiv und freilassend an die ganze Menschheit übergeben müssen. In meinem Buch mache ich einen Vorschlag, wie die Botschaft nicht in einer Vision unter extremen Umständen, sondern aus dem höheren Wachbewusstsein heraus hätte gestaltet werden können.


Ost-West Synthese oder neue christliche Esoterik?


Eine von Rudolf Steiners Hauptaufgaben sollte in seiner vergangenen Inkarnation darin bestehen, eine geisteswissenschaftlich fundierte Synthese zwischen Asien und dem Westen herzustellen. Verarbeiten wir vor allem die anthroposophische Buddhismus-Forschung insgesamt, stellen wir dennoch fest, dass er Siddhartha Gautama, den historischen Buddha, bereits am Anfang der Einführung in seine neuen christlichen Esoterik begeistert geschätzt, aber auch vereinnahmt und gleichzeitig in seiner abschließenden Buddha-Forschung den traditionellen Buddhismus unverhältnismäßig abwertend verurteilt hatte. Dabei blieb die neue, weltliche Beziehung des Mahāyāna-Buddhismus zum irdischen Daseinskreislauf vollständig unberücksichtigt.


Das Märchen Goethes war für Rudolf Steiner die Initialzündung für seinen eigenen, spirituellen Entwicklungsweg. Er sprach nicht nur begeistert von einer neuen „Erwartungsstimmung“, einer „Neuauffassung des Mysteriums von Golgatha“ (St. R.: Der Goetheanismus, ein Umwandlungsimpuls und Auferstehungsgedanke, GA 188, Vortrag vom 11.1.1919), sondern Goethes Märchen hielt für ihn bereits die wichtigsten Ideen der anthroposophischen Menschenkunde, Kosmologie und Christologie, bereit. Diese Inspiration war der zentrale Impuls für die Entwicklung der Anthroposophie, die im Westen erstmals umfassend das spirituelle Niveau von asiatischen Geistesströmungen erreichte.


In seinen esoterischen Auslegungen zu Goethes Märchen knüpfte Steiner teils überaus stringent wieder an seine mittelalterliche Inkarnation an. Dagegen kann seine beste exoterische Auslegung von 1918, Goethes Geistesart in ihrer Offenbarung durch sein Märchen von der „Grünen Schlange und der Lilie“ jeder Mensch auf der ganzen Welt nur begrüßen.


Überblicken wir in diesem Zusammenhang besonders Steiners Buddhismus-Forschung, war ihm auch nach zwei großen, ausgesprochen geisteswissenschaftlich orientierten Inkarnationen, in der neuen Inkarnation erneut die wissenschaftliche Installation seiner neuen Christologie wichtiger, als der soziale Impuls von Weltspiritualität.


Steiners philosophisches Hauptwerk Die Philosophie der Freiheit führt uns direkt zu der auch von Goethe in seiner Zeit überaus geschätzten empirischen Weltoffenheit des Aristoteles. Er erklärte, dass in Aristoteles die Tendenz liege, etwas „zu materiell“ zu werden, - dafür trete er „umso solider“ auf. Steiners esoterisches Hauptwerk, die Geheimwissenschaft im Umriss und seine mit diesen Themen verbundenen Vortragszyklen zeigen dagegen genau so deutlich wieder Spuren der absolutistischen Weltanschauung des Thomas von Aquin.


So können wir auch dieses Mal die Frage stellen, ist Rudolf Steiners esoterische Christologie erneut zu geistig geworden? Aus diesem unglaublich kreativen Spannungsfeld entstand die Anthroposophie! Es ist ein noch weitgehend unverarbeitetes, großes Geschenk für die europäische Spiritualität, dass Goethes spirituell und naturwissenschaftlich interessiertes Kunstgenie in Steiners Arbeit die zentrale Vermittlungsinstanz gewesen ist.


Neben allem Reichtum, der aus der Anthroposophie zu schöpfen ist, lohnt es sich, die heutige Strömung des Mahāyāna-Buddhismus, näher kennen zu lernen. Wie Rudolf Steiner, beherrscht auch der 14. Dalai Lama die mehr männlich geprägte, westliche, intellektuelle Intelligenz und die mehr weiblich geprägte, emotional-spirituelle Intelligenz des Ostens in einer weitgehend ausgeglichenen Art und Weise. Schriften des 14. Dalai Lama bringen uns die Sichtweise des Mahāyāna-Buddhismus näher.


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  • 2. Sept. 2020
  • 13 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 3. Sept. 2020

von Wolf-Dieter Musmann


Orientierung nach dem Untergang


Als ich geboren wurde, war der zweite Weltkrieg gerade zu Ende. Alles stand unter dem Eindruck der Weltkriegskatastrophe. Die Zerstörung der Städte und Dörfer, die viele nur aus Filmen kennen, umgab mich. Es gab Hunger und Mangel auf allen Gebieten. Das erlebte ich als junger Mensch ahnend und stimmungshaft mit. Was zu den äußeren Trümmern hinzukam, war der immer deutlicher werdende totale Zusammenbruch im Selbsterleben der deutschen Menschen. Wir waren Unterlegene einer totalen Niederlage. Das merkte ich als Kind mehr und mehr.


„Du bist Deutscher. Einer aus dem Volk der Verbrecher, die die Weltkatastrophe verursacht haben.“ Das war schrecklich für mich und ich wusste lange nicht, wie mit diesem Druck auf mein im Werden begriffenes Selbstgefühl umzugehen. Meine Eltern schwiegen zu der Vergangenheit. Sie gaben mir wenig Stütze bei meiner Suche nach Halt. Sie hatten selbst eine Erziehung erlebt, die sie zu Unterwerfung unter den Stärkeren, zu Gehorsam aus Angst gezwungen hatte, und sie hatten unter der Wirkung einer undurchschauten, das nationale Selbstgefühl hochjubelnden Propaganda gestanden. Sie hatten an das Gute geglaubt und wurden zu Mittätern des Bösen. Der Schock saß tief.


Auch in der Öffentlichkeit gab es keinen Halt für mein inneres Aufrichten. Unter dem Diktat der Sieger wurde damals alles niedergemacht, was von Tugenden der Deutschen sprach, und von einem notwendigen Bedürfnis der jungen Menschen nach Selbstachtung. Nur diejenigen, die die Schande beschworen, und das „Nie wieder“ ständig wiederholten, waren zu hören. Woher konnte die Selbstachtung kommen?


In den damals wenigen Begegnungen mit ausländischen Jugendlichen war ich noch mit 20 Jahren ein Außenseiter. Die Jugendlichen aus den Siegervölkern, denen ich begegnete, waren stolz. Sie waren hochgestimmt und konkurrierten eifrig untereinander. Jeder wollte gut vor den anderen dastehen und andere mit seiner Persönlichkeit und Herkunft beeindrucken. Mich betrachteten sie als Deutschen und damit als Verlierer. Trotzdem war etwas in mir, das immer wieder deren Kontakt suchte.


Natürlich suchte ich damals, wie jeder junge Mensch, in meinem Umfeld etwas, mit dem ich mich identifizieren konnte. Auch wenn es mir damals schmerzhaft erschien und ich neidisch war auf die, die aus ihrer nationalen Identität Stärke ziehen konnten. Als Deutscher konnte ich damit nicht mithalten. Ich wollte es auch nicht wirklich. Ich erkannte damals schon die Konturen: Der Nationalstolz in Europa und der Welt hatte die Menschen scharf voneinander getrennt, hatte ihnen ein trügerisches Machtgefühl verliehen und die Welt in Freunde und Feinde geteilt. Die größten Kriegskatastrophen der Weltgeschichte waren die Folge.


Studienjahre im Kampf gegen Traditionen


In der Nachkriegsöffentlichkeit wurde vor allem eine verfehlte Pädagogik für die Katastrophe verantwortlich gemacht. Das war nicht nur der Tenor der Siegermächte und mancher Universitätsprofessoren und Literaten. Für mich und Teile der jungen Erwachsenen war das von Anfang an voll verständlich. Ich entschloss mich, auch noch aus anderen Gründen, Lehrer zu werden. Ich wollte durch eine andere Erziehung der Kinder eine Wiederholung der Kriegsursachen verhindern.

Aber in der Praxis wurde ich überraschend mit einer Pädagogik konfrontiert, die ich nicht erwartet hatte. Rohrstock und Ohrfeige waren in den Schulen noch nicht verboten. Nicht einmal verpönt. Manche Eltern benutzten Stock und Hand selbst. Manche nahmen diese „Behandlung“ ihrer Kinder einfach schweigend hin. Man sprach dabei von Autorität. In meiner Schulzeit war Gehorsam noch eine gängige Vokabel gewesen. Das war aber nicht erst seit Hitler so, sondern bereits davor, und im Deutschen Kaiserreich. Aber nach der Katastrophe? Mir war klar: Gewaltvolle Autorität durfte nicht sein. Gehorsam war keine Tugend.

Ich erlebte, wie im Herzen der misshandelten Kinder die Achtung vor dem Lehrer schwand. Sie machten sich heimlich lustig, wurden aufmüpfig oder bekamen Angst und Schuldgefühle. Aber sie verloren nicht nur die Achtung vor dem Lehrer, sondern oft auch ihre Selbstachtung. Wer seine Selbstachtung verliert, behandelt auch andere achtlos. Das konnte ich im Umgang der Schüler miteinander erleben. Doch nicht alle beugten sich den Autoritäten. Manche wehrten sich gegen diese Form der Erziehung. Sie wehrten sich allerdings in einem Alter, in dem eigentlich Vertrauenskraft gebildet werden sollte.


Für die damals florierende „Wirtschaftswunderblüte“ war der Gehorsam eine gute Grundlage. Im Wiederaufbau mussten alle ran. Es hieß, nicht sich beklagen. Zupacken. Machen, was der Chef sagt. Die Wiederaufbaujahre schienen also zunächst alte Tugenden und Hierarchien wie Notwendigkeiten fortzusetzen.

Dagegen regte sich in der Jugend Widerstand. In den sechziger Jahren begannen Unruhen an den Universitäten. Studenten, unter ihnen überdurchschnittlich viele, die damals internationale Verbindungen pflegten, begannen den Protest gegen alte Autoritäten und deren Methoden. Ich war dabei, aber nicht mittendrin. Es missfiel mir die aggressive, gewaltsame Art, wie der Widerstand sich ausdrückte.

Aufbruch in auseinanderbrechenden Strukturen

Anfang der 1960 war ich ein noch recht konservativer Jugendlicher, aber ich spürte, in den Menschen begann sich etwas zu bewegen. Es gab Aussteiger, Geistsucher, Alternative Lebensformen, Antifaschisten. Sie wurden alle misstrauisch beäugt von der Mehrheit der Deutschen.


„Ruhe ist die erste Bürgerpflicht.“ So zitierten die Studenten ironisch die Parolen des Kaiserreichs. Es gab Krawalle. Polizei musste her. Die jungen Menschen wollten raus aus der verordneten Friedhofsruhe, aus der lebensfeindlichen Ordnung, raus dem System von Arbeitszwang, Konsumzwang und Kriegszwang.


Interessanterweise war damals die Jugend sehr mit kommunistischen Parolen unterwegs. Die wenigsten wollten realen Kommunismus, sahen sie doch durch den eisernen Vorhang der Propaganda des Kalten Krieges und der deutschen Teilung nach Osten. Sie nutzten die Parolen, um laut, aber nicht voll bewusst, wie mit einer unterschwelligen Drohung die „verkrusteten Strukturen“ des „Establishments“ zu erschüttern. Linksorientierte Philosophen und Soziologen bestärkten sie. „Die da oben“ waren dagegen.

Massenjugendkultur wie die Beatles und Rolling Stones zogen viele in ihren Bann. Konzertveranstaltungen wurden zu Exzessen. Ich sah mich damals als Kritiker dieser Extasen, die zu zerschlagenen Sälen und Polizeieinsätzen führten. Ich wollte nicht Masse, sondern Individualität und Gedankenklarheit. Im Nachhinein sehe ich, dass in diesem exzessiven Verhalten eine Befreiung von engen, überkommenen Vorstellungen stattfand, die dem Einzelnen mehr Eigenraum verschafften.

Zunächst aber erschütterten die Politiker die Jugend. Ich selbst war 1968/69 als Wehrpflichtiger in einer Kaserne in Koblenz. Politiker hatten lanciert, dass bald die Bundeswehr gegen die Studentenrevolten eingesetzt werden sollte. Ich rüstete mich innerlich auf eine Befehlsverweigerung. Auf Studenten schießen wollte ich nicht, aber durch den erlebten Drill, auch als Sanitätssoldat, war ich nicht sicher, ob ich das schaffen würde. War ich stark genug, zu meinen Werten zu stehen?

Zum Glück kam es nicht dazu. Die Jugend, viele einzelne Menschen gemeinsam, eroberte sich Stück für Stück, mit großen Risiken für ihr eigenes Fortkommen, neue Rechte innerhalb der Universität. Sie demonstrierten ernsthaft. Sie erreichten mehr Mitsprache, mehr Freiheit für Lehre und Forschung. Langsam drehte sich auch die populäre Presse in ihrer Berichterstattung. Studenten waren nicht mehr nur anarchische Bösewichte und Faulenzer, sondern wurden progressive Kräfte.

Es kam auch zu einer Lockerung des Verhältnisses der Menschen hinsichtlich der Leiblichkeit. Sex wurde ein öffentliches Thema und es wurde heiß und leidenschaftlich darum gekämpft. Ein Thema war die Pille und die sogenannte geschlechtliche Aufklärung, die dem Impuls zur Gleichstellung der Frauen neuen Auftrieb gab. Frauen tauchten in neuen Rollen auf und begannen öffentlich mitzugestalten. Ich neigte dazu, nach einem neuen Rollenverständnis auch für mich als Mann zu suchen. Ich wollte es anders machen.


Als ich in den 1970er Jahren ein zweites Studium an der Mainzer Universität absolvierte, war ich mit vielen Studenten verschiedener politischer Couleur zusammen. Neben dem Studium nahmen viele von uns an sozialen Projekten teil, legten sich mit bürokratischen Institutionen an und organisierten Demonstrationen. Es war sehr deutlich: Viele von uns wollten Veränderungen, vor allem im Sozialen und hinsichtlich der persönlichen Freiheiten. Nur über die Wege und Mittel diskutierten wir heftig. Ich war einer der Ältesten unter ihnen, war schon im Beruf und wollte nicht einfach demonstrieren und schreiend Gruppendruck machen. Die einnehmende Solidarität, wie sie in den Terroristengruppen herrschte, und die linksradikale Sprache vieler Organisationen stießen mich ab.

Der Einsatz vieler Menschen blieb nicht ohne Erfolg. Die Umwandlung des Wirtschaftslebens durch das sog. Betriebsverfassungsgesetz erfasste schließlich auch die Jugend und die arbeitende Bevölkerung außerhalb der Universitäten. Hinzukam, dass die Jugend sich immer mehr vernetzte. Die Bewegung wurde internationaler. Europa formte sich als Wirtschaftsraum - schließlich war der Aufbruch international.

Ich denke, dass durch die vielen internationalen Begegnungen, das neu entstehende Vertrauen und die unmittelbaren Ich-Erlebnisse in der Begegnung mit Anderen ein neues Klima entstand. Das geschah auf den Ebenen der Politik, der Wirtschaft und der Kultur.

Ideologien und Kalter Krieg

Aber noch war die Welt in zwei Lager gespalten. Die sogenannte „freie Welt“ unter Führung der USA behauptete, der einzelne Mensch sei die Quelle für den Wohlstand und die kulturelle Entwicklung des Menschen. Die absolute Befreiung des Ich-Menschen, die Beseitigung aller Hemmnisse, namentlich der Egoismus der einzelnen Menschen sollte, wie durch eine unsichtbare Hand gelenkt, wachsenden Wohlstand und eine Höherentwicklung für alle Menschen schaffen. Alles Kommunistische, alles gewerkschaftlich, gemeinschaftlich oder solidarisch orientierte wurde als Hemmnis einer freien Entwicklung angesehen und teils öffentlich, teils heimlich bekämpft.


Dieses Credo wirkt bis auf den heutigen Tag und brachte den Kapitalismus und die unkontrollierte Globalisierung hervor. Doch genau betrachtet zeigten sich mir darin zwei Seiten. Erstens: Das stärkere Ich kann das schwächere nutzen und ausbeuten. Dies führt bis heute zu großen Unterschieden zwischen einer riesigen Anzahl armer Menschen und einer geringen Anzahl reicher Menschen. Zweitens: Es gibt eine grundsätzliche, gesetzliche Anerkennung der einzelnen Menschen mit unveräußerlichen Menschenrechten.

Der kommunistische Teil der Welt unter Führung der Sowjetunion ging davon aus, dass gerade das Bestreben des Einzelmenschen die Wurzel allen Übels sei. Daraus folgte eine Bekämpfung des Egoismus mit allen pädagogischen, propagandistischen und gewaltsamen Mitteln. Es hieß: Zuerst das Kollektiv! Wir sind eine Gemeinschaft! Wir sind grundsätzlich alle gleich und alle Arbeit und alles Streben hat der Gemeinschaft zu dienen!

Diese Gedanken beriefen sich vor allem auf Karl Marx, der aus einer gründlichen Analyse der Lage der Arbeiter in der beginnenden Industrialisierung die Notwendigkeit erkannt hatte, die Kapitalisten in ihrem egoistischen Machtstreben zu kontrollieren. Er wollte den Arbeitern zu ihrem Menschenrecht verhelfen. Sein Aufruf „Proletarier aller Länder vereinigt euch“ war ein Aufruf zum Klassenkampf, der schließlich unter Leitung des Russen Lenin zu einer Revolution in Russland geführt hatte.


Das Kollektive sollte das Ich des einzelnen ersetzten. Eine große Welle von Kriegen gegen den Einzelnen, Enteignungen, Verschleppungen und Ermordungen waren damit verbunden. Das Wirken eines persönlichen Ichs wurde in der Form des sog. „Bolschewismus“ oder „Stalinismus“ mehr und mehr unterdrückt.


Die beiden Blöcke standen sich kriegerisch gegenüber. Sie rangen auch um die Länder der sog. „dritten Welt“, um die Länder, die in der Folge des zweiten Weltkriegs entkolonialisiert wurden. Die einzelnen Menschen in diesen Ländern sollten nun unter der Knute des Kapitalismus schuften, oder sich kommunistische Zügel anlegen lassen. Dazu diente die sogenannte Entwicklungshilfe, die mit Geldzahlungen, einseitigen Geschäften, Waffenlieferungen und dem Anheizen innerer Konflikte diese Länder in Abhängigkeiten brachte. Von beiden Seiten bezeichnete die Propaganda das Handeln der eigenen politischen Eliten als „Befreiung“.

Im starren Denken dieser politisch-ideologischen Blöcke erkannte ich nur vordergründig die Auseinandersetzung um Macht und Selbstverteidigung. Im Hintergrund der offenen Auseinandersetzungen fand ich die Frage nach dem Ich des einzelnen Menschen und seinem Verhältnis zur Gemeinschaft.

In der Anthroposophie traf ich auf Menschen, die den ideologischen Kampf der Mächte im Westen gegen die Mächte im Osten auch für einen Irrweg hielten. Sie versuchten, einen dritten Weg zu verstehen.

Der Dritte Weg

Etwa zur Zeit der russischen Revolution, hatte Rudolf Steiner die Idee der Dreigliederung des sozialen Organismus in die Welt gesetzt und damals viele Anhänger gefunden. Er wollte den drei Bereichen des öffentliche Lebens (Wirtschaft, Kultur und Politik) eigene innere Gesetzmäßigkeiten zugestehen. Jeder einzelne Mensch sollte an allen drei Bereichen aktiven Anteil haben.


Dabei betrachtet er das Ich des Menschen nicht als das Ergebnis der biologischen Vererbung oder der Sozialisation, sondern als einmalige und unwiederholbare Geistgestalt, die erdunabhängige, spirituelle Wurzeln hat. Diese Vorstellung faszinierte mich.


Doch der anthroposophische Impuls konnte sich nach dem ersten Weltkrieg nicht durchsetzen und es trat die von ihm vorausgesagte Spaltung der Welt in Ost und West ein. Rudolf Steiner gründete darauf hin im Jahr 1919 die Waldorfschule. Sie sollte den Boden bereiten für die Entwicklung der inneren Freiheit jedes einzelnen Kindes, um sich altersentsprechend in Kultur, Wirtschaft und Politik zu verankern. Auf dieser Grundlage könne sich ein dreigegliederter sozialer Organismus entwickeln.

Aber nicht nur bezüglich eines organischen Aufbaus der gesamten Gesellschaft fand ich interessante Gedanken in der Anthroposophie. Mir begegnete auch eine neue Auffassung von Autorität für das Lehrerdasein. Die neue Perspektive sah vor, der Lehrer solle seine Kinder von ganzem Herzen lieben. Er solle sie vor allem in den ersten acht Jahren der Klassenlehrerzeit so liebevoll führen, dass sie ihm freiwillig und zwanglos folgten. Vertrauen war die Grundlage dieser Autorität, nicht Übermacht. Das war für mich einleuchtend und gleichzeitig revolutionär, forderte sie doch auch gleichzeitig mich als ganzen Menschen heraus.

Auch die anthroposophischen Aktivitäten auf den verschiedenen anderen Praxisgebieten von Landwirtschaft, Medizin, Heilpädagogik, Religion und Kunst lernte ich sehr schätzen. Immer deutlicher wurde mir, es handelte sich dabei nicht nur um eine andere Glaubensrichtung, sondern insgesamt um einen dritten Weg.

Einzelne Menschen mit einem starken inneren Impuls und im ständigem Ringen mit den herrschenden Zeitströmungen gründeten Initiativen und hielten die Erinnerung an diesen gänzlich neuen Weg wach. Sie opferten und riskierten viel und hatten materiell oft geringe Sicherheiten. Heute zeigt sich immer mehr, wie wichtig solche Ich-getragenen Leistungen in Katastrophenzeiten sein können.

UNO, NGO‘s und starke Iche

Eine weitere Entwicklung der Nachkriegszeit auf der Ebene der großen internationalen Politik ist mir wichtig, in meine Betrachtungen mit aufzunehmen, auch weil es einen großen Einfluss auf das Handeln einzelner Menschen hatte. Es war der Versuch, einen neuen Völkerbund, die „Vereinten Nationen“ zu schaffen. Die Vereinten Nationen hatten nicht in erster Linie das Recht des einzelnen Menschen auf ihre Fahnen geschrieben, sondern die Gleichberechtigung der Nationen.

Die Bereitschaft dazu war nach dem zweiten Weltkrieg groß, doch blieb die Macht der UN gering, da die Großmächte nicht wirklich an einer weltweiten Zusammenarbeit interessiert waren. Sie konnte sich nur dort durchsetzen, wo die Interessen der Großmächte nicht tangiert waren.


Ich habe erlebt, dass Menschen der UNO eine Kraft brauchen, die nicht nur aus ideologischem Eifer kommen kann, sondern die sie trotz vieler Rückschläge immer wieder aus sich schöpfen müssen. Heute erfordert es mehr Geduld und Erfülltsein von der Vision der Menschenrechte denn je, um dem Fernziel der UN weltweit zum Leben zu verhelfen. Es genügt nicht, die Menschenrechte zu erklären. Man muss heute härter als kurz nach dem Krieg für ihre Verwirklichung arbeiten.

Vielen gelang das Schöpfen aus der eigenen Kraft auch außerhalb der UN. Es entstanden als Alternative zu den Ideologien von Ost und West heraus individuelle Privatinitiativen, die Nicht-Regierungs-Organisationen, Non-Governmental-Organisations oder NGOs, während die alten Kräfte nicht verschwanden. Die NGOs entstanden meist aus den Initiativen von Einzelpersonen, die sich auf Grund erkannter Veränderungsnotwendigkeiten zu Gruppen zusammenschlossen. Sie gründeten gemeinnützige Vereine oder Stiftungen. Finanzieren mussten sie sich durch Spenden, durch das Engagement einzelner Menschen.

NGOs sind auf ähnlichen Gebieten wie der Staat und die Wirtschaft tätig. Aber sie zeigen Fehlentwicklungen auf und durch den individuellen Impuls und das Getragen-sein ihrer Mitglieder werden sie in grundsätzlich individuellere Richtung gelenkt, als Staaten und Konzerne das zulassen können.

Heute, mehr als noch vor zwanzig Jahren, sind diese Organisationen nicht nur mit der Aufgabe beschäftigt, die sie sich zum Ziel gesetzt haben, sondern müssen sich ständig gegen finanzielle Abhängigkeiten und Reglementierungen und Beschneidungen von Seiten des Staates wehren. Auch vor Unterwanderungen durch wirtschaftliche Interessen und Organisationen müssen sie auf der Hut sein. Sie werden vielerorts eingeschränkt oder verboten, denn ihre Wirksamkeit lässt sich nicht vollständig staatlich überwachen. Auch die multinationale Konzerne betrachten die NGOs als lästig und bekämpfen sie mit vielen Mitteln.

Ich selbst bin weder in der UNO noch in einer internationalen NGO tätig geworden. Aber die Gründung einer Waldorfschule ist so etwas wie eine kleine NGO. Es ist ein freier Zusammenschluss von Eltern und Lehrern, die im ständigen Gespräch und in gemeinsamer Organisation etwas Neues für ihre Kinder schaffen wollen. Das ist immer auch mit einem Risiko behaftet.

Ursprünglich erkenne ich in solchen Organisationen den Ausdruck von verbundener Ich-Kraft, die praktisch tätig wird. Die Personen eines solchen neuen sozialen Gebildes gehen ganz neue Wege. Sie treffen unmittelbar von Ich zu Ich aufeinander. Sie haben keinen Schutzschild durch Vorgesetzte, Amtsbefugnisse, Gesetze oder Verordnungen. Ideal trifft auf Ideal, Wille auf Wille. Oft eifern sie sehr und es kann Kampf entstehen. Aber sie lernen, einander in Achtung zu begegnen, fair zu kämpfen und das Ziel nicht aus den Augen zu verlieren.

Zwei starke Handlungen

Die persönlichen Auseinandersetzungen mit Ideologie und Praxis zeigten sich mir nicht nur bei öffentlich unbekannten Personen, sondern auch immer wieder bei herausragenden Persönlichkeiten. Zwei Handlungen waren für mich besonders eindrücklich.

Als es nach dem Krieg um eine vollständige Kontrolle und Eindämmung Deutschlands gegangen war, hatte der französische Außenminister Schumann einen gänzlich neuen Weg versucht. Er hatte den Plan zum Aufbau einer „Deutsch-Französischen Freundschaft“ vorgelegt. Die französischen Sieger-Nationalisten waren Sturm dagegen gelaufen. Adenauer hatte sich dem Plan angeschlossen und war dafür von den deutschen revanchistischen Nationalisten stark angefeindet worden.

Trotz dieser Gegenkräfte konnten beide Politiker einen Keim legen, der bis heute noch nicht vollendet ist. Er gilt als Keim für Europa. Europa, wussten beide, entsteht nicht von selbst, sondern durch die Kraft von Menschen, die es mit Überzeugung vorantreiben.

Ähnlich bedeutsam ist für mich der Kniefall von Willi Brandt in Warschau. Er war damals äußerst umstritten. Von mir wird er als ein Zeichen von Ich-Kraft erster Güte gedeutet. Durch seine Tat wurde eine Zusammenarbeit mit dem kommunistischen Osten möglich. Es war eine erste Ahnung vom Ende des Kalten Krieges zwischen den Weltblöcken „Freie Welt“ und Sowjetunion.

Frei sein


Individualisierung, als Leben aus der eigenen Ich-Kraft ist keine Selbstverständlichkeit. Sie muss gewollt sein und muss geübt werden. Sie gelingt nicht einfach durch das Ausbrechen aus einem System, einer Gemeinschaft oder einer Weltanschauung.


Individualisierung belastet den Menschen auch. Er muss darum ringen und sich behaupten. Und es besteht die Gefahr nach kleinen Erfolgen für die persönliche Freiheit in neue Zwänge neuer Kollektive zurückzufallen, wo man sich wieder sicher fühlen kann.


Hoffnung gibt mir, dass wenn die Quelle des Ichs einmal freigelegt ist, von dort die Kräfte kommen, selbstbestimmter zu leben und die Angst überwunden werden kann, was daran hindert, in alte Sicherheiten zurückzukehren.


Wie also muss die Umgebung sein, in der die Jugend aufwachsen müsste, um die Freiheit zu lieben, ihre Belastungen zu ertragen und ihre eigene innere, mitgebrachte Erneuerungskraft in Fluss zu bringen?


Das war die Aufgabenstellung, die Rudolf Steiner 1919 mit der Gründung der Waldorfschule den Lehrern stellte und die ich mir mein ganzes Leben hindurch als Lehrer stellte. Heute ringen viele Pädagogen darum, in Ost und West, in Süd und Nord, und die Länder vergleichen sich.


In den vielen, vielen Gesprächen, die ich mit Eltern führen durfte, fand ich oft eine Frage an mich: Ist das was Sie hier vertreten und praktizieren ihr Eigenes, etwas Authentisches, oder leben Sie nur nach Rezepten von Rudolf Steiner? Ich konnte Ihnen nicht versichern, wie es war.


Manche haben nach einiger Zeit geglaubt, das, was ich tat, sei das Richtige, und haben es an ihren Kindern für richtig befunden. Manche haben nach einiger Zeit die Schule gewechselt, aus den unterschiedlichsten Gründen. Waren es freie Entscheidungen? Oft wussten Sie, was sie nicht wollten. Manchmal fühlten sie, wenn irgendwo etwas genau so war, wie sie es für ihre Kinder gut fanden. Manchmal fühlten sie auch nur, dass da etwas war, wo sie ihrem erahnten Verständnis näher kommen konnten, in allen Schularten oder -systemen. Was trieb sie an? Wollten sie eine bessere Förderung für die Anlagen ihrer Kinder? Wollten sie bessere Abschlüsse für einen günstigeren Start ins Leben? Es gab sicher viele Gründe. Ich wage nicht, darüber zu urteilen. Es schien mir oft eine überrationale Instanz in den Eltern zu sein, die diese Entscheidung trafen. War es deren Ich-Wirkung?


Auch ich beschäftigte mich oft mit der Frage, ob meine Arbeit wirklich das war, was ich für mich und die Schüler gesucht hatte. War ich selbst schon frei genug gewesen, den Schülern die richtige Hilfestellung zu geben? Oder hatte ich sie in vorgeprägte Bahnen gelenkt, in vorgeprägte Begriffe oder traditionelle Handlungen.


Entscheidend wurde mir, dass Eltern, Lehrer und Schüler lernten, darauf zu achten, was aus jedem Menschen heraus will, was aus einem unsichtbaren höheren Impuls in jedem einzelnen in den Lebensgang sich entwickeln will, und dass sie alle Hindernisse, Überlagerungen, Verunsicherungen und Ängstigungen beseitigen; bei Eltern, Schülern und Lehrern.


Individualisierung und Freiheit müssen geschützt werden. So wie ein junger Keim nicht sofort der vollen Belastung und Bedrohung des Lebens ausgesetzt werden kann, müssen sie gepflegt und gehegt werden.


So erlebe ich im Kleinen, was man vielleicht aus dem Gesagten erkennen kann: weltweit ringen kollektivistische Kräfte, Staaten, Militärblöcke, Wirtschaftsmächte, Religionen und Traditionen um Existenz oder Vorherrschaft. Einzelne Menschen müssen darin ihren Platz finden. Ob der einzelne darin von Bedeutung ist, ergibt sich daraus, ob seine Impulse wirklich stark und frei sind, ob er im rechten Zeitpunkt wirksam wird und ob er sich mit verwandten Ich-Impulsen verbinden kann.


Freiwillige Verbindung mit anderen ist nicht Kollektivismus, denn auch im gemeinsamen Kampf für ein Ziel muss der Einzelne so frei wie möglich bleiben. Wer allerdings seinen eigenen Willen zur Richtschnur seiner Partner machen will, missachtet die Würde und Kompetenz der anderen Menschen, auch wenn er noch so stark von sich überzeugt ist.


Es ist möglich, dass der Einzelne in vielen anderen Einzelnen, die mit den herrschenden Strömungen mitschwimmen, etwas wachrufen kann. Die Ich-Kraft ist in jedem latent vorhanden. Aber sie muss geweckt werden. Sie muss oft befreit werden aus dem Druck der Angst und dem Bedürfnis nach Schutz. Oder es muss ihr zumindest geholfen werden, sich selbst zu befreien. Dann kann sie zum Keim werden für neue Entwicklungen, wie sie die ganze Menschheit braucht.

  • 24. Aug. 2020
  • 5 Min. Lesezeit

Im ersten Moment wirkt die Frage ganz simpel: „Was ist die Ich-Kraft?“ - Na, ich, halt. Meine Kraft. Das, was ich mache. Nein, das was ich bin? Hm.“ Und schon wird es schwierig. Eine Sammlung innerer Erlebnisse von Axel Stirn

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Das Wort „Ich“ fliegt uns meist einfach aus dem Mund: „Ich gehe“, sagen wir, wenn wir gehen. „Ich ruf dich zurück“, sagen wir, wenn wir gerade nicht sprechen können. „Ich hätte gerne eine Tasse Tee“, bestellen wir im Café. Das „Ich“ ist anscheinend in der Welt. Das „Ich“ tut scheinbar Dinge. Es ist das Subjekt in diesen Sätzen. Es geht, spricht, verschiebt, bestellt und trinkt.

Aber nicht immer wird das tätige „Ich“ auch so benannt. Mir ist aufgefallen, dass es Menschen gibt, die sehr oft das Wörtchen „man“ benutzen. Sie erzählen etwas aus ihrem Leben. Doch anstatt das in Ich-Form zu tun, verallgemeinern sie die Handlungen und Aussagen. Grammatikalisch könnte ohne Weiteres das Wort „Ich“ passen. Ich frage sie, wen sie meinen. Sie antworten: „Mich! Wen denn sonst?“


Andere Menschen wechseln in einer Geschichte vom „ich“ zum „du“.

„Es ist wirklich nicht zum aushalten. Der Chef ist ein richtiger Idiot“, erzählen sie und sagen dann: „Aber da muss du halt durch.“

„Ich?“ frage ich. „Meinst du mich? Du sagtest „du“. Ich muss da nicht durch. Meinst du dich? Sag doch „ich“.

„Jaja. Stimmt. Klar. Mein ich doch“, reagieren Manche. Im nächsten Satz sagen sie erneut „du“, zögern einen Moment, korrigieren sich, und sagen den Satz mit „ich“. Im übernächsten fällt ihnen das „du“ schon nicht mehr auf. Andere erzählen sogar ganze Geschichten mit „du“. Als sei ich der Protagonist ihrer Geschichte.


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Zehn Menschen sitzen mit mir in einem Stuhlkreis. Wir sind aufgefordert, aufrecht zu sitzen. Der Leiter bittet uns die Augen zu schließen. Wir sollen uns einen Kreis vorstellen. Einen hellen Kreis auf dunklem Grund. Ich konzentriere mich und erschaffe vor meinem inneren Auge einen leuchtenden Kreis.

„Egal wie groß dein Kreis ist“, sagt der Leiter, „schaffe dir jetzt einen kleineren.“

Nach einer kleinen Weile bittet er uns: „Und jetzt einen viel größeren."

Ich stelle mir meine Kreise vor.

„Jetzt nimm wieder den ersten Kreis, den, mit dem du begonnen hast und verändere ihn. Verkleinere ihn und vergrößere ihn. Stufenlos. Lass ihn groß werden. Und wieder kleiner.“

Ich tue wie mir geheißen und drehe am Maßstabsregler. Der Kreis wächst und schrumpft, dehnt sich aus und zieht sich zusammen.

Er lässt uns das eine Weile machen. Dann bedankt er sich und wir öffnen wieder die Augen.

Er schaut einmal in die Runde, nimmt Blickkontakt mit jedem einzelnen von uns auf und stellt die Frage:

„Wer hat den Kreis bewegt?“

„Na, ich!“ fährt es mir durch die Gedanken. „Beeindruckend“, füge ich hinzu. „Ich scheine wohl eine geistige Kraft in meinem Innern zu sein.“


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Wer genügend Eckart Tolle gelesen hat oder andere zeitgemäße spirituelle Lehrer, kann den Aussagen begegnen:

Du bist nicht deine Gedanken.

Du bist nicht deine Gefühle.

Du bist nicht die Vergangenheit.

Du bist nicht die Zukunft.

Viele aktuelle Achtsamkeitsübungen wollen den gestressten modernen Menschen aus seinem inneren Hamsterrad befreien. Dazu wird versucht, mit Hilfe von Atembeobachtung, Gedankenberuhigung und Körperwahrnehmung das gedankliche Hamsterrad wahrzunehmen, das uns in Stress versetzt, um es langsamer werden zu lassen, um es vielleicht eines Tages anzuhalten, um zur Ruhe zu kommen, in der ja bekanntlich die Kraft liegt.

Wenn ich nicht meine Gedanken bin, und auch nicht meine Gefühle, schon gar nicht meine Gedanken an die Zukunft und die Vergangenheit - wer bin ich dann?

Wer beobachtet denn das alles?

Wer hält denn das Rad an?


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„Schau den Stein dort drüben an. Wo ist deine Aufmerksamkeit? Spüre deine linke Verse. Wo ist deine Aufmerksamkeit? Spüre in dein Herz. Wo ist deine Aufmerksamkeit? Bist du die Aufmerksamkeit?“

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Ich hatte einmal die Gelegenheit mit einem überdrehten jungen Mann zu sprechen. Im Nachhinein fand ich heraus, er war Manisch-Depressiv. Ich erwischte ihn in einer manischen Phase. Er sprang umher wie ein kleines Kind. Alles fing seine Aufmerksamkeit, verlor sie aber auch gleich wieder, sobald er etwas neues fand.

Auf einer Wegstrecke, die wir gemeinsam gingen, fing er an, mir den Inhalt eines Buches zu erzählen. Den ersten Sätzen konnte ich gut folgen. Dann schüttelte er den Kopf und wies auf die wunderschönen Blüten am Straßenrand und begann über Blüten und Bienen zu schwadronieren.

Ich bat ihn, die Geschichte weiterzuerzählen.

„Jaja. Mach ich ja.“

Er nahm sich zusammen, legte die Stirn in Falten, senkte die Stimmlage und erzählte mir einen weiteren Teil. Dann flog plötzlich ein Vogel über uns hinweg und mit diesem seine Aufmerksamkeit.

„Halt!“ rief ich. „Bleib bei der Geschichte. Wie geht es weiter?“ Das Spiel wiederholte sich noch viele Mal bis die Straße zu Ende war und die Gelegenheit uns verließ. Aber mir war etwas aufgefallen.

Immer wieder flog seine Aufmerksamkeit wie getrieben oder aufgescheucht von einer Sache zu nächsten, so, als ob er ihr nur hinterher eilen könnte, so, als ob sie von anderen Kräften getrieben seiner Kontrolle immer entfliehen wollte. Jedesmal wenn ich ihn bat, die Geschichte zu erzählen, schien es, als strengte er sich innerlich an, schien seine Kraft zusammenzunehmen, um bei der Sache zu bleibe, beruhigte sich darin, fokussierte seinen rastlosen Blick, konzentrierte sich. Für den Moment, in dem er sich konzentrierte, seine Geschichte zu erzählen, war es, als Verliese er die Höhen der Manie und fand wieder Bodenkontakt. Was, fragte ich mich, geschieht da in ihm?


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Ich sitze aufrecht auf einem Stuhl. Mir gegenüber sitzt eine junge Frau, ebenfalls aufrecht auf ihrem Stuhl. Die Leitung bittet uns, die Augen zu schließen. Wir machen eine Wahrnehmungsreise durch unseren Körper. Vom Kopf bis zum Fuß und zurück. Ich spüre, wie ich bei mir bin, wie ich mit mir bin.

Dann werden wir aufgefordert, den Kopf etwas zu heben.

„Fangt an, wahrzunehmen wo ihr seid. Geht mit eurer Aufmerksamkeit in den Raum um euch. Nun blickt über den Menschen, der euch gegenübersitzt, hinweg, und öffnet langsam die Augen. Spürt den Raum, die Anwesenheit des anderen Menschen, spürt euch in dem Raum mit ihm und den Raum um euch. Schließt die Augen wieder und kommt wieder zu euch.“

Wir hatten einige Momente zum Atmen. Die Leitung sprach erneut: „Spürt euch. Seid entspannt. Wenn ich Jetzt sage, öffnet ihr die Augen und blickt dem Gegenüber in die Augen.“

Ich öffnete die Augen und verlor mich.

Mit dem Blick in das andere Augenpaar flog ich im Bruchteil einer Sekunde wie von einem schwarzen Loch angesaugt aus mir heraus. Schlagartig war mir eiskalt und ich hatte eine hohle Angst in Mark und Bein. Panikartig schloss ich die Augen wieder und war genauso schnell wieder alles Unangenehme los, wieder bei mir in Frieden und Wärme.

Was war geschehen?

Die Leitung sprach: „Nun wisst ihr, was geschieht, wenn ihr eure Augen öffnet und dem anderen in die Augen schaut. Beim folgenden zweiten Versuch bitte ich euch: Öffnet die Augen langsam. Versucht, mit eurer Aufmerksamkeit diesmal weiterhin bei euch zu bleiben. Verliert nicht Kontakt zu euch.“

Langsam öffnete ich die Augen. Mit innerer Anstrengung hielt ich den Kontakt stabil. Aber es zog. Etwas zog mich zum anderen Menschen hin. Immer wieder musste ich aktiv dem Sog widerstehen und die Aufmerksamkeit zurückholen.

Es war anstrengend.

Ich schloss die Augen wieder.

„Vielen Dank“, beendete die Leitung die Übung.

Seit dieser ersten Erfahrung habe ich die Übungen mit anderen Menschen gemacht. Ich kann es sehr empfehlen, sie einmal selbst zu machen. Welche Kraft muss sich dabei anstrengen? Ist es die Ich-Kraft?


Ich gebe zu bedenken, dass nicht jeder Mensch die Kraft hat, solche Übungen alleine zu machen, d.h. sich selbst auszuhalten. Es braucht Begleitung und angeleitete Auswertung. Deshalb sind bei Übungen LeiterInnen anwesend. Es ist Vorsicht geraten!

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