Auf der Suche nach inspirierenden Veröffentlichungen zum "anthroposophischen Ich" fand unser Redaktionsmitglied Axel Stirn im Internet einen Artikel, in dem der Autor sich auf die Suche nach dem Ich im Buddhismus gemacht hatte. Das Thema erweckte sofort sein Interesse für "Randthemen, an denen oft die Neuerungen geschehen". Nach Aufnahme des Kontaktes zum Autor kam ein reger Austausch über die Neuerstellung eines Artikels zu besagten Thema in Gang. Das Ergebnis intensiver Konzentrationen wird hier zum ersten Mal veröffentlicht. Es will einladen, den Blick über den sich leider oft schnell festigenden Tellerand mal wieder offenen Herzens zu riskieren.
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Die spirituelle Ost-West-Synthese durchzuarbeiten ist für mich eine Lebensaufgabe. Vier Jahrzehnte arbeite ich inzwischen an dem Thema. Und es ist noch lange nicht abgeschlossen. Bald wird ein ausführliches Buch über die Ergebnisse meiner Forschungen erscheinen. Eine sehr kurze Zusammenfassung zentraler Inhalte erscheint hier erstmalig auf Keime für die Zukunft. Den Redakteuren war es auch wichtig, den Autor hinter der Arbeit sehen zu können. Darum folgen zuerst einige biographische Aspekte von mir, dem Autor Thomas Schickler.
Meine kraftvolle Basis ist meine anthroposophisch-goetheanisch orientierte Verwandtschaft mit meinen Großeltern und der großzügigen Freigeistigkeit meiner Eltern. Allen voran mein Großvater Wolfgang, der mir mit vier Jahren Goethes Märchen von der Grünen Schlange schenkte.
Im Jugendalter durchlebte ich bestimmte Jahre in der Waldorfschule, studierte in Dornach Eurythmie, in Stuttgart Heileurythmie, wurde Heilpraktiker und unterstützte an einer Schule für Erziehungshilfe über 30 Jahre lang Kinder und Jugendliche und meine Kollegen.
Kaum hatte mein Studium in Dornach, in der Schweiz, begonnen, wusste ich, dass es meine Aufgabe sein wird, zur neuen Spiritualität des Westens von Asien aus Stellung zu nehmen. So bestand meine Arbeit darin, annähernd vier Jahrzehnte lang Philosophie, anthroposophische Geisteswissenschaft und östliche Spiritualität zu studieren.
Steiners Buddhismus- und Krishna-Forschung, die Namen Yogananda, Aurobindo, Prabhupāda und der 14. Dalai Lama waren mir wertvolle Stationen. Ich reiste später nach Indien, um auch von den dortigen Lehrern und Meistern Steiners Linie „Zarathustra war Schüler bei den Heiligen Rishis“ zu erkunden.
Rudolf Steiner ermöglichte mir den direkten Einstieg in die klassisch idealistische Geistesepoche. Ich lernte durch ihn schneller das Wesentliche von Schiller, Goethe, Wilhelm von Humboldt, Novalis, Schelling, Fichte, Hegel und Kant kennen. Ich fühlte mich in dem Umkreis dieser Geister gleich zu Hause. Oft mehr als in der anthroposophischen Bewegung. Auch die Lebenswerke von Lothar und Heinz Hartmut Vogel haben mich sehr geprägt.
Zur Vorbereitung auf die Reise meditierte ich mehrere Monate lang immer wieder das Pentagramm und den Siebenstern. Als ich in der Palmblattbibliothek in Südindien ankam, überreichte man mir als erstes eine Karte. Darauf war ein weißes Pentagramm zu sehen. Daneben ein Yogi mit sieben roten Punkten auf dem Körper und einer Laterne in der Hand (Der „Alte mit der Lampe“ lebte auch in Indien, bevor er in Goethes Märchen in den Westen entschwand).
Rückblickend erkenne ich, dass alles, was biografisch und an außergewöhnlichen, spirituellen Erfahrungen geschehen ist, nur dazu da war, dass ich möglichst viel Zeit haben konnte, die spirituelle Ost-West-Synthese durchzuarbeiten, durchschauen zu lernen, was bisher gewesen ist, und das wichtigste davon ins lebendige Leben überzuführen.
Eine ausführliche Kritik an Steiners neuer esoterischer Christologie mit einer umfangreicheren Untersuchung von Steiners Buddhismus-Anschauung und seinem Verständnis von Krishna werden in meinem nächsten Buch zu lesen sein. Im folgenden Artikel geht es vordergründig um den Aspekt des Ichs.
Wichtig ist mir an dieser Stelle mein tief empfundener Dank an meine Frau und an meine Kinder. Ohne ihr Interesse und ihre Hilfe wäre diese langwierige Arbeit nicht möglich gewesen.
Steiners einseitige Sichtweise
Im ersten Drittel des 20. Jahrhundert hatte die anthroposophische Geisteswissenschaft noch erklärt, dass der Buddhismus die „Form des Ichs“ verloren habe. Das, was das Abendland „Ich“ nannte, habe im „Buddhismus keinen Platz“, so Steiner 1911 in einem Vortrag (Von Jesus zu Christus, GA 131, vom 9.11.1911). Eine solche Aussage verleitet leicht dazu, den buddhistischen Ich-Begriff gänzlich miss zu verstehen und ihn, wie es im Westen heute immer noch üblich ist, negativ zu bewerten.
Rudolf Steiner kritisierte in seinen Vorträgen ausschließlich die aus der Urgemeinde Buddhas entstandene Strömung der so genannten ersten Drehung des buddhistischen Dharma-Rades. Er sprach allgemein von einer Unbrauchbarkeit dieses Impulses für die weltliche Entwicklung und unterstellte dem gesamten Buddhismus kategorisch Geschichtslosigkeit. Diese Auffassung verbreitete sich in der anthroposophischen Bewegung. Bald wertete man alle traditionellen buddhistischen Geistesströmungen als „alten Weg“, in dem noch ein „instinktives“, atavistisches Bewusstsein vorhanden sei, ab. Von der geistigen Wirklichkeit aus gesehen ist eine solche Anschauung eine Überheblichkeit des Westens.
Auch im Buddhismus gibt es verschiedene Strömungen. Der 14. Dalai Lama ist ein Vertreter des Mahāyāna-Buddhismus. In dieser Strömung war das neue Bodhisattva-Ideal mit zwei Willenstugenden, der „Freigebigkeit“ und dem „Reinkarnationsversprechen“, bereits im 1. Jahrhundert vor Christus ausgereift. Danach ist ein Bodhisattva ein Mensch der auf die Buddhaschaft (die vollkommene Erleuchtung) so lange verzichtet, bis er allen anderen Menschen geholfen hat, ihr höheres Menschsein zu verwirklichen (Dalai Lama (2004): Mitgefühl und Weisheit, Diogenes, Zürich). Die Geistesgeschichte Asiens spricht von der zweiten Drehung des buddhistischen Dharma-Rades (Rad der Lehre).
Dem gegenüber vertrat Rudolf Steiner selbst nach 2400 Jahren Entwicklungszeit im Buddhismus immer noch folgende Auffassung: „Wenn nichts weiter eingetreten wäre, als dass der große Buddha das Rad des Gesetzes hätte rollen lassen, dann würde zwar die Menschheit von jetzt ab nach 3000 Jahren auch die Fähigkeit erlangt haben, die Lehre von dem Mitleid und der Liebe zu wissen; aber etwas anderes ist es, auch die Kraft erlangt zu haben, um wirklich darinnen zu leben. Diese Fähigkeit ging von dem Christus aus.“
Einige Zeilen weiter formulierte Steiner noch stringenter: [Beim Christus-Impuls] ist „nicht nur mein Kopf angefüllt mit der Weisheit des achtgliedrigen Pfades […]“ (Steiner, R: Das Lukas-Evangelium, 5. Aufl. Vortrag vom 25. 9. 1909, S. 184 u. 190). Auch im darauf folgenden Jahr hören wir weiter: „Der Buddhist sagt sich: Bekämpfe den Drang in die Inkarnationen zu kommen, denn deine Aufgabe ist es, dich sobald als möglich frei zu machen von dem Durst nach Durchgang in den Inkarnationen […] der Buddhist hat das nicht in sich, […] was man einen Impuls nennen kann, der so stark ist, dass er immer vollkommener in uns werden kann […]“ (Steiner, R.: Das Ereignis der Christuserscheinung GA 118. Vortrag vom 15.5. 1910).
In seinem abschließenden Forschungsergebnis über die neue Aufgabe des transzendenten Buddha auf dem Planeten Mars stellte Steiner den traditionellen Buddhismus für die gesamte Zeit der Erdentwicklung unter den christlichen Fortschrittsimpuls: „Hier auf der Erde können die Menschen nur Schüler des Buddha sein, wenn sie nicht mitwollen mit dem fortgeschrittenen [christlichen] (Anmerk. d. Verf.) Teil der Erdbevölkerung.“ (St. R: Das Leben zwischen Tod und neuer Geburt, GA 141, Vortrag vom 14.1. 1913).
Bereits um die Jahrhundertwende, 1901, bekundete Rudolf Steiner, dass er die neue geistige Bewegung in Europa nicht an den „östlichen Okkultismus“ anknüpfen wolle. Doch, warum sollte sich gerade die neue, spirituelle Intelligenz im Westen von irgendeiner anderen Bewusstseinsstufe auf der Welt abgrenzen? Für eine neue Geisteswissenschaft mit einem gerade im christologischen Zusammenhang betont universellen Anspruch auf Objektivität in der Erkenntnis ist diese Haltung fragwürdig (Siehe z.B. Die okkulten Grundlagen der Bhagavad Gita GA 146, S. 74, Vortrag vom 31.5. 1913).
Wo blieb hier die „bildende Liebe“, die Vermählung „des Jünglings“ (der Menschheit) mit der „schönen Lilie“ (der intellektuellen und spirituellen Intelligenz) und die „Selbstlosigkeit“ (die in Weisheit gereifte Lebenserfahrung) der „grünen Schlange“ aus Goethes Märchen, über dessen esoterischen und exoterischen Gehalt Rudolf Steiner schon zehn Jahre lang anregende Vorträge gehalten hatte?
Das Ich im Mahāyāna-Buddhismus
Während Rudolf Steiner davon ausging, dass der Buddhismus „die Form des Ichs verloren“ habe, betont man im Mahāyāna-Buddhismus heute gerade den Formaspekt des „transzendentalen“, „bloßen Ichs“. Dieser Aspekt bleibt auch im Reinkarnationszusammenhang erhalten: „Es gibt ein bloßes Ich, ein bloßes Selbst, zu dem man die Begriffe, mein vorheriges Leben und mein zukünftiges Leben in Bezug setzen kann kann. Das bloße Ich existierte im vorherigen Leben, es existiert in diesem Leben und es wird im nächsten Leben existieren.“ Das „bloße Ich“ lebt als eine „handelnde und fühlende Person“. Je umfassender es entwickelt ist, desto aktiver entfaltet sich in ihm das „klare Licht“ des geistigen Schauens.
Der Begriff des „bloßen Ichs“ umfasst die fünf „Khandhas“, die menschlichen Persönlichkeitsmerkmale von Körper, Wahrnehmung, Empfindung, Willensregungen und Bewusstsein, einschließlich des Begriffs der „Geistesregungen“ („sankhāra“, Skrt: samskāra, „Herstellung“, „Zubereitung“). In diesem Zusammenhang verwendet man im Mahāyāna - Buddhismus sowohl den Begriff „Geist“, als auch den aus dem Geist durch denkende Tätigkeit erfassten Begriff des individuellen „bloßen Ichs“. Der Dalai Lama zählt heute in seinen Schriften selbstverständlich die Begriffe der „Wertung“ und der „Form“ zu den Persönlichkeitsmerkmalen. Auch im Buddhismus zählt die reale Person, wer man sozusagen zwischen Geist und Körper tatsächlich ist, mehr, als der durch Denken erfasste Begriff des „bloßen Ichs“ und alles, was wir damit an Vorstellungen, Wünschen, und Idealen verbinden.
Nach der Auffassung des Dalai Lama entwickelt sich jeder Mensch als ein „individueller Geist“ durch „geistigen Fortschritt“. Erst im Zustand der Buddhaschaft sind „alle negativen Eigenschaften überwunden und in positive Eigenschaften umgewandelt“. In diesem Seelen- und Geisteszustand existieren keine gröberen Ebenen des Denkens und Vorstellens mehr. Weil es für den Mahāyāna-Buddhismus also kein „bloßes Ich“ in völlig unabhängiger Eigenexistenz gibt, stellt man in dieser Geistesströmung sogar noch nach dem Erreichen der Buddhaschaft das „individuelle Ich“ in den Vordergrund.
Eine andere buddhistische Schule, die Vaibhasika-Schule aus der ursprünglichen Theravada-Richtung lehnt diese Ansicht ab. Sie lehrt, dass es keine Weiterexistenz des Ichs gibt, wenn ein Mensch die Buddhaschaft erreicht und dann zum letzten Mal stirbt. Auch im Hinduismus finden wir diese Auffassung, dass sich das individuelle Ich im Moksha (der Befreiung) auflöst (Siehe zu diesen Fragen: Dalai Lama (1996): Die Buddha-Natur, Grafing, Aquamarin).
Rudolf Steiners Reinkarnationslinie
Beschäftigen wir uns mit Rudolf Steiners Reinkarnationslinie, durchschauen wir, dass seine esoterische Christologie nicht in der gleichen Weise aus seiner über Goethe entwickelten an spiritueller Geistes- und Naturwissenschaft interessierten Aristoteles-Ader stammt. Als Wiederverkörperung Thomas von Aquins verinnerlichte er zwar Jahrzehnte lang Goethes Sichtweise, aber erst durch sein erstmals über Goethes Märchen von der Grünen Schlange neu erwecktes christologisches Interesse konnte er wieder umfassend an den inneren Impuls seiner Philosophischen Theologie im Mittelalter anknüpfen.
Dazu finden wir in den Auslegungen zu Goethes Märchen einen überaus interessanten internen Vortrag vom 8.1.1905, in dem Steiner in aller Geistestiefe wieder an seine damalige mittelalterliche Christologie anknüpfte. Dort legt er die vierte Brücke und den „Alten mit der Lampe“ (die Weltweisheit) nicht nur als „Glauben“ an sich aus, sondern stellte seinen Zuhörern die Frage, ob die Kraft der Religion nicht bereits „erleuchtend wirke“, wenn ihr der durch den „Opfertod Christi unabhängig gewordene Glaube“ entgegenkomme? Und dass die „Herrlichkeit des Glaubens“ sich erst dann „offenbare“, wenn sich „die Weisheit zum Glauben hinzugesellt.“
Auf der sachlichen Ebene gibt es im Werk Steiners wohl kaum eine interessantere Stelle, die uns den Übergang von der Philosophischen Theologie Thomas von Aquins zu der neuen Esoterischen Geisteswissenschaft anschaulicher enthüllt. Dabei wusste Rudolf Steiner selbstverständlich, dass Goethe nie an dem Glauben, sondern stets nur an dem geistigen Schauen interessiert war.
Steiners Christologie
Rudolf Steiner unterlag, meiner Auffassung nach, wie in seiner Buddhismus-Forschung, auch einer deutlichen Einseitigkeit auf dem christologisch-esoterischen Gebiet. Sie liegt kurz gesagt in der zu großen Spannweite zwischen der Katholischen Kirche, die heute noch die Frauenordination bis in alle Ewigkeit „unwiderruflich“ verweigert und der von dem wiederverkörperten Thomas von Aquin erneut viel zu vertikal strukturierten Auffassung von Christus als einem überdimensionalen „Makrokosmischen Ich“. In der Katholischen Kirche ist die natürliche Körperanlage der Frau heute zweifellos erniedrigt. In der von Steiner neu ausgestalteten esoterischen Christologie ist das höhere Weibliche, unsere höhere, geistige Anlage, in Form eines überdimensionalen Makrokosmischen Christus-Bildes ebenfalls einseitig überhöht.
Steiner begrüßte zwar zunächst ausdrücklich Goethes Kritik an der Apokalypse des Johannes, installierte danach aber, wie im Mittelalter, erneut eine Christologie, die der Menschheit auf der 6. Venus-Stufe zunächst nur eine „allerletzte unabänderlich Entscheidung“ einräumte. Doch ist nicht diese Tatsache an sich interessant (siehe Steiners Apokalypse Vorträge von 1908), sondern Steiners direkte Anknüpfung an die Christologie des wiederverkörperten Thomas von Aquin. Die Vision des Johannes war ihm so wichtig, dass er aus den sieben Sendschreiben die Bewusstseinsanlagen der sieben nachatlantischen Kulturepochen ableitete. Für ein nach Steiner „echtes Zeugnis“ eines Makrokosmischen Ichs ist das zu wenig.
Ich denke nicht, dass die bildende Liebe aus Goethes Märchen bis zur Venus-Entwicklungsstufe der Erde neben göttlicher Gesetzlichkeit und göttlicher Macht nur die dritte Geige spielen kann.
Damit stellte der 53 jährige Rudolf Steiner in Vorträgen sein gegenüber Thomas von Aquin ins nahezu Unglaubliche verfeinerte Hierarchien - Gebäude der Katholischen Kirche erneut über die freie individuelle Entwicklung, die man im Buddhismus stärker als im Christentum, aus der eigenen geistigen Erfahrung lebt.
Dieser Weg war für Rudolf Steiner insgesamt m. E. eine teilweise nicht gelungene Gratwanderung. Ein „Makrokosmisches Ich“ welches nach Steiner der zentrale Mittelpunkt der Menschheitsentwicklung ist, hätte seine mit den Ereignissen der Zeitwende ja unmittelbar verbundene Abschlussbotschaft im Sinn der Liebe zu unserer inneren und äußeren Freiheit und der Selbstlosigkeit spätestens ab dem sechsten Sendbrief konstruktiv und freilassend an die ganze Menschheit übergeben müssen. In meinem Buch mache ich einen Vorschlag, wie die Botschaft nicht in einer Vision unter extremen Umständen, sondern aus dem höheren Wachbewusstsein heraus hätte gestaltet werden können.
Ost-West Synthese oder neue christliche Esoterik?
Eine von Rudolf Steiners Hauptaufgaben sollte in seiner vergangenen Inkarnation darin bestehen, eine geisteswissenschaftlich fundierte Synthese zwischen Asien und dem Westen herzustellen. Verarbeiten wir vor allem die anthroposophische Buddhismus-Forschung insgesamt, stellen wir dennoch fest, dass er Siddhartha Gautama, den historischen Buddha, bereits am Anfang der Einführung in seine neuen christlichen Esoterik begeistert geschätzt, aber auch vereinnahmt und gleichzeitig in seiner abschließenden Buddha-Forschung den traditionellen Buddhismus unverhältnismäßig abwertend verurteilt hatte. Dabei blieb die neue, weltliche Beziehung des Mahāyāna-Buddhismus zum irdischen Daseinskreislauf vollständig unberücksichtigt.
Das Märchen Goethes war für Rudolf Steiner die Initialzündung für seinen eigenen, spirituellen Entwicklungsweg. Er sprach nicht nur begeistert von einer neuen „Erwartungsstimmung“, einer „Neuauffassung des Mysteriums von Golgatha“ (St. R.: Der Goetheanismus, ein Umwandlungsimpuls und Auferstehungsgedanke, GA 188, Vortrag vom 11.1.1919), sondern Goethes Märchen hielt für ihn bereits die wichtigsten Ideen der anthroposophischen Menschenkunde, Kosmologie und Christologie, bereit. Diese Inspiration war der zentrale Impuls für die Entwicklung der Anthroposophie, die im Westen erstmals umfassend das spirituelle Niveau von asiatischen Geistesströmungen erreichte.
In seinen esoterischen Auslegungen zu Goethes Märchen knüpfte Steiner teils überaus stringent wieder an seine mittelalterliche Inkarnation an. Dagegen kann seine beste exoterische Auslegung von 1918, Goethes Geistesart in ihrer Offenbarung durch sein Märchen von der „Grünen Schlange und der Lilie“ jeder Mensch auf der ganzen Welt nur begrüßen.
Überblicken wir in diesem Zusammenhang besonders Steiners Buddhismus-Forschung, war ihm auch nach zwei großen, ausgesprochen geisteswissenschaftlich orientierten Inkarnationen, in der neuen Inkarnation erneut die wissenschaftliche Installation seiner neuen Christologie wichtiger, als der soziale Impuls von Weltspiritualität.
Steiners philosophisches Hauptwerk Die Philosophie der Freiheit führt uns direkt zu der auch von Goethe in seiner Zeit überaus geschätzten empirischen Weltoffenheit des Aristoteles. Er erklärte, dass in Aristoteles die Tendenz liege, etwas „zu materiell“ zu werden, - dafür trete er „umso solider“ auf. Steiners esoterisches Hauptwerk, die Geheimwissenschaft im Umriss und seine mit diesen Themen verbundenen Vortragszyklen zeigen dagegen genau so deutlich wieder Spuren der absolutistischen Weltanschauung des Thomas von Aquin.
So können wir auch dieses Mal die Frage stellen, ist Rudolf Steiners esoterische Christologie erneut zu geistig geworden? Aus diesem unglaublich kreativen Spannungsfeld entstand die Anthroposophie! Es ist ein noch weitgehend unverarbeitetes, großes Geschenk für die europäische Spiritualität, dass Goethes spirituell und naturwissenschaftlich interessiertes Kunstgenie in Steiners Arbeit die zentrale Vermittlungsinstanz gewesen ist.
Neben allem Reichtum, der aus der Anthroposophie zu schöpfen ist, lohnt es sich, die heutige Strömung des Mahāyāna-Buddhismus, näher kennen zu lernen. Wie Rudolf Steiner, beherrscht auch der 14. Dalai Lama die mehr männlich geprägte, westliche, intellektuelle Intelligenz und die mehr weiblich geprägte, emotional-spirituelle Intelligenz des Ostens in einer weitgehend ausgeglichenen Art und Weise. Schriften des 14. Dalai Lama bringen uns die Sichtweise des Mahāyāna-Buddhismus näher.
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