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Das Ich wahrnehmen

Im ersten Moment wirkt die Frage ganz simpel: „Was ist die Ich-Kraft?“ - Na, ich, halt. Meine Kraft. Das, was ich mache. Nein, das was ich bin? Hm.“ Und schon wird es schwierig. Eine Sammlung innerer Erlebnisse von Axel Stirn

Bild: pixabay.com


Das Wort „Ich“ fliegt uns meist einfach aus dem Mund: „Ich gehe“, sagen wir, wenn wir gehen. „Ich ruf dich zurück“, sagen wir, wenn wir gerade nicht sprechen können. „Ich hätte gerne eine Tasse Tee“, bestellen wir im Café. Das „Ich“ ist anscheinend in der Welt. Das „Ich“ tut scheinbar Dinge. Es ist das Subjekt in diesen Sätzen. Es geht, spricht, verschiebt, bestellt und trinkt.

Aber nicht immer wird das tätige „Ich“ auch so benannt. Mir ist aufgefallen, dass es Menschen gibt, die sehr oft das Wörtchen „man“ benutzen. Sie erzählen etwas aus ihrem Leben. Doch anstatt das in Ich-Form zu tun, verallgemeinern sie die Handlungen und Aussagen. Grammatikalisch könnte ohne Weiteres das Wort „Ich“ passen. Ich frage sie, wen sie meinen. Sie antworten: „Mich! Wen denn sonst?“


Andere Menschen wechseln in einer Geschichte vom „ich“ zum „du“.

„Es ist wirklich nicht zum aushalten. Der Chef ist ein richtiger Idiot“, erzählen sie und sagen dann: „Aber da muss du halt durch.“

„Ich?“ frage ich. „Meinst du mich? Du sagtest „du“. Ich muss da nicht durch. Meinst du dich? Sag doch „ich“.

„Jaja. Stimmt. Klar. Mein ich doch“, reagieren Manche. Im nächsten Satz sagen sie erneut „du“, zögern einen Moment, korrigieren sich, und sagen den Satz mit „ich“. Im übernächsten fällt ihnen das „du“ schon nicht mehr auf. Andere erzählen sogar ganze Geschichten mit „du“. Als sei ich der Protagonist ihrer Geschichte.


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Zehn Menschen sitzen mit mir in einem Stuhlkreis. Wir sind aufgefordert, aufrecht zu sitzen. Der Leiter bittet uns die Augen zu schließen. Wir sollen uns einen Kreis vorstellen. Einen hellen Kreis auf dunklem Grund. Ich konzentriere mich und erschaffe vor meinem inneren Auge einen leuchtenden Kreis.

„Egal wie groß dein Kreis ist“, sagt der Leiter, „schaffe dir jetzt einen kleineren.“

Nach einer kleinen Weile bittet er uns: „Und jetzt einen viel größeren."

Ich stelle mir meine Kreise vor.

„Jetzt nimm wieder den ersten Kreis, den, mit dem du begonnen hast und verändere ihn. Verkleinere ihn und vergrößere ihn. Stufenlos. Lass ihn groß werden. Und wieder kleiner.“

Ich tue wie mir geheißen und drehe am Maßstabsregler. Der Kreis wächst und schrumpft, dehnt sich aus und zieht sich zusammen.

Er lässt uns das eine Weile machen. Dann bedankt er sich und wir öffnen wieder die Augen.

Er schaut einmal in die Runde, nimmt Blickkontakt mit jedem einzelnen von uns auf und stellt die Frage:

„Wer hat den Kreis bewegt?“

„Na, ich!“ fährt es mir durch die Gedanken. „Beeindruckend“, füge ich hinzu. „Ich scheine wohl eine geistige Kraft in meinem Innern zu sein.“


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Wer genügend Eckart Tolle gelesen hat oder andere zeitgemäße spirituelle Lehrer, kann den Aussagen begegnen:

Du bist nicht deine Gedanken.

Du bist nicht deine Gefühle.

Du bist nicht die Vergangenheit.

Du bist nicht die Zukunft.

Viele aktuelle Achtsamkeitsübungen wollen den gestressten modernen Menschen aus seinem inneren Hamsterrad befreien. Dazu wird versucht, mit Hilfe von Atembeobachtung, Gedankenberuhigung und Körperwahrnehmung das gedankliche Hamsterrad wahrzunehmen, das uns in Stress versetzt, um es langsamer werden zu lassen, um es vielleicht eines Tages anzuhalten, um zur Ruhe zu kommen, in der ja bekanntlich die Kraft liegt.

Wenn ich nicht meine Gedanken bin, und auch nicht meine Gefühle, schon gar nicht meine Gedanken an die Zukunft und die Vergangenheit - wer bin ich dann?

Wer beobachtet denn das alles?

Wer hält denn das Rad an?


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„Schau den Stein dort drüben an. Wo ist deine Aufmerksamkeit? Spüre deine linke Verse. Wo ist deine Aufmerksamkeit? Spüre in dein Herz. Wo ist deine Aufmerksamkeit? Bist du die Aufmerksamkeit?“

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Ich hatte einmal die Gelegenheit mit einem überdrehten jungen Mann zu sprechen. Im Nachhinein fand ich heraus, er war Manisch-Depressiv. Ich erwischte ihn in einer manischen Phase. Er sprang umher wie ein kleines Kind. Alles fing seine Aufmerksamkeit, verlor sie aber auch gleich wieder, sobald er etwas neues fand.

Auf einer Wegstrecke, die wir gemeinsam gingen, fing er an, mir den Inhalt eines Buches zu erzählen. Den ersten Sätzen konnte ich gut folgen. Dann schüttelte er den Kopf und wies auf die wunderschönen Blüten am Straßenrand und begann über Blüten und Bienen zu schwadronieren.

Ich bat ihn, die Geschichte weiterzuerzählen.

„Jaja. Mach ich ja.“

Er nahm sich zusammen, legte die Stirn in Falten, senkte die Stimmlage und erzählte mir einen weiteren Teil. Dann flog plötzlich ein Vogel über uns hinweg und mit diesem seine Aufmerksamkeit.

„Halt!“ rief ich. „Bleib bei der Geschichte. Wie geht es weiter?“ Das Spiel wiederholte sich noch viele Mal bis die Straße zu Ende war und die Gelegenheit uns verließ. Aber mir war etwas aufgefallen.

Immer wieder flog seine Aufmerksamkeit wie getrieben oder aufgescheucht von einer Sache zu nächsten, so, als ob er ihr nur hinterher eilen könnte, so, als ob sie von anderen Kräften getrieben seiner Kontrolle immer entfliehen wollte. Jedesmal wenn ich ihn bat, die Geschichte zu erzählen, schien es, als strengte er sich innerlich an, schien seine Kraft zusammenzunehmen, um bei der Sache zu bleibe, beruhigte sich darin, fokussierte seinen rastlosen Blick, konzentrierte sich. Für den Moment, in dem er sich konzentrierte, seine Geschichte zu erzählen, war es, als Verliese er die Höhen der Manie und fand wieder Bodenkontakt. Was, fragte ich mich, geschieht da in ihm?


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Ich sitze aufrecht auf einem Stuhl. Mir gegenüber sitzt eine junge Frau, ebenfalls aufrecht auf ihrem Stuhl. Die Leitung bittet uns, die Augen zu schließen. Wir machen eine Wahrnehmungsreise durch unseren Körper. Vom Kopf bis zum Fuß und zurück. Ich spüre, wie ich bei mir bin, wie ich mit mir bin.

Dann werden wir aufgefordert, den Kopf etwas zu heben.

„Fangt an, wahrzunehmen wo ihr seid. Geht mit eurer Aufmerksamkeit in den Raum um euch. Nun blickt über den Menschen, der euch gegenübersitzt, hinweg, und öffnet langsam die Augen. Spürt den Raum, die Anwesenheit des anderen Menschen, spürt euch in dem Raum mit ihm und den Raum um euch. Schließt die Augen wieder und kommt wieder zu euch.“

Wir hatten einige Momente zum Atmen. Die Leitung sprach erneut: „Spürt euch. Seid entspannt. Wenn ich Jetzt sage, öffnet ihr die Augen und blickt dem Gegenüber in die Augen.“

Ich öffnete die Augen und verlor mich.

Mit dem Blick in das andere Augenpaar flog ich im Bruchteil einer Sekunde wie von einem schwarzen Loch angesaugt aus mir heraus. Schlagartig war mir eiskalt und ich hatte eine hohle Angst in Mark und Bein. Panikartig schloss ich die Augen wieder und war genauso schnell wieder alles Unangenehme los, wieder bei mir in Frieden und Wärme.

Was war geschehen?

Die Leitung sprach: „Nun wisst ihr, was geschieht, wenn ihr eure Augen öffnet und dem anderen in die Augen schaut. Beim folgenden zweiten Versuch bitte ich euch: Öffnet die Augen langsam. Versucht, mit eurer Aufmerksamkeit diesmal weiterhin bei euch zu bleiben. Verliert nicht Kontakt zu euch.“

Langsam öffnete ich die Augen. Mit innerer Anstrengung hielt ich den Kontakt stabil. Aber es zog. Etwas zog mich zum anderen Menschen hin. Immer wieder musste ich aktiv dem Sog widerstehen und die Aufmerksamkeit zurückholen.

Es war anstrengend.

Ich schloss die Augen wieder.

„Vielen Dank“, beendete die Leitung die Übung.

Seit dieser ersten Erfahrung habe ich die Übungen mit anderen Menschen gemacht. Ich kann es sehr empfehlen, sie einmal selbst zu machen. Welche Kraft muss sich dabei anstrengen? Ist es die Ich-Kraft?


Ich gebe zu bedenken, dass nicht jeder Mensch die Kraft hat, solche Übungen alleine zu machen, d.h. sich selbst auszuhalten. Es braucht Begleitung und angeleitete Auswertung. Deshalb sind bei Übungen LeiterInnen anwesend. Es ist Vorsicht geraten!

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