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  • 12. Apr. 2021
  • 3 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 28. Mai 2021

Die Fortsetzung des Gesprächs: Frau Andrea Fathy antwortet auf das Schreiben von Wolf-Dieter Musmann mit Blick auf den Austausch zwischen dem öffentlichen Bildungssystem und der Waldorfpädagogik, dessen Anfänge hier nachzulesen sind. Text: Andrea Fathy

Bild: pixabay.com


Lieber Herr Musmann,


herzlichen Dank für Ihren Brief und Ihre Antwort auf meinen ersten Beitrag auf „Keime für die Zukunft". Es hat mich gefreut, Ihre Einschätzungen und Anmerkungen zu lesen und ich will Ihnen gerne antworten.


Die Verantwortung, die die Vertreter der Waldorfpädagogik übernommen haben, indem sie Schulen gegründet haben, diese betreiben und durch alle möglichen Höhen und Tiefen führen ohne ihre Ziele und Ideale aufzugeben, kann nicht hoch genug geschätzt und gewürdigt werden. Meines Wissens ist die Waldorfschule die einzige Schulform, die es über inzwischen mehr als 100 Jahre geschafft hat, sich in ihren pädagogischen Anliegen, ihren geistgen Grundlagen und deren konsequenter Umsetzung treu zu bleiben.


Gerade weil ich die Waldorfpädagogik so hoch schätze, stellt sich mir die Frage, wem sie zu Gute kommen kann/ soll? Im Saarland gibt es drei Waldorfschulen und dann noch die Johannesschule und die Anna Betzner Schule als Waldorfschulen für Kinder mit Förderbedarf.


Im Grunde sind alle diese Waldorfschulen ja Schulen für die Schülerinnen und Schüler ihrer Region. Manche Schüler*innen besuchen diese Waldorfschule von der 1. bis zur 13. Klasse, manche wechseln während ihrer Schullaufahn von einer Grundschule oder einer weiterführenden Schule an eine Waldorfschule, manche verlassen die Waldorfschule auch wieder und werden Schülerinnen und Schüler des öffentlichen Schulsystems.


Die Fragen, die die Schülerinnen und Schüler heute mitbringen sind im Großen und Ganzen die gleichen, ob sie nun eine Waldorfschule oder eine öffentliche Schule besuchen. Die Antworten, die die Schulen suchen, um die von allen am Bildungssystem Beteiligten gerungen wird, sind aber sehr vielfältg.


Wäre es da nicht hilfreich und sinnvoll, wenn man zu einem Austausch kommt, um sich bei diesem Suchen nach Antworten gegenseitg zu unterstützen?


Ich würde gerne ein Gedankenexperiment wagen, das ganz niederschwellig ist und im Rahmen aller derzeit bestehenden rechtlichen Rahmenbedingungen, aber vielleicht gerade deshalb gewagt:


Lehrer*innen der Waldorfschulen nehmen an den vom Bildungsministerium initierten Landesfachkonferenzen der einzelnen Fächer oder an Lehrplankommissionen teil und bringen ihre Erfahrungen mit ein, lernen die Ansichten und Erfahrungen öffentlicher Schulen kennen. Das Bindeglied wäre das gemeinsame Anliegen, dass alle Schülerinnen und Schülern inhaltlich und methodisch dasjenige lernen, was sie in ihrer Entwicklung zu selbstbestimmten Persönlichkeiten unterstützt.


Auch in den Aufgabenkommissionen für die HSA und MBA Prüfungen könnten Kolleginnen und Kollegen der Waldorfschulen ihren Platz fnden. Zum einen würde das Gefühl der Waldorfschule „vom Staatfremd bestimmt zu werdent" relativiert, weil man zum einen (im günstigsten Fall) nachvollziehen kann, weshalb bestimmte Prüfungsaufgaben so gestellt werden und (im allergünstgsten Fall) können die Kolleginnen und Kollegen der Waldorfschulen dazu beitragen, dass die Prüfungen eine sinnvolle Form erhalten, so dass auch alle anderen Schüler*innen davon profitieren können.


Nicht zuletzt sieht die Prüfungsordnung zum Erwerb des Mittleren Bildungsabschlusses an Waldorfschulen ausdrücklich vor, dass die Waldorfschulen Prüfungsvorschläge für das Fach Deutsch einbringen, die sich auf den besonderen Literaturkanon der Waldorfschule beziehen.


Gerade in der aktuellen Lage vervielfachen sich die Herausforderungen an das Bildungssystem. Was die Kinder derzeit an Mangel erleben, indem sie abgeschnitten sind von existentellen Sozialkontakten, sich Lernen reduziert auf mediengestützte digitale Prozesse, Angst, Unsicherheit und Panik allgegenwärtg sind, wird für alle Schulen und alle Lehrerinnen und Lehrer in den nächsten Jahren neue, kreative Lösungen notwendig machen.


Im Moment sind fast alle rechtlichen Rahmenbedingungen offen und gelockert. Was hilfreich und sinnvoll ist, kann ausprobiert werden. Was sich bewährt, wird in der Zeit, wenn wieder ein „normaler Schulbetrieb" stattfindet, beibehalten, verbessert und verbindlich werden können.


Gehört es nicht zu den ureigensten Grundlagen der Waldorfpädagogik Sinnenschulung, Bewegung, Naturerlebnisse, reale Zusammenhänge zu vermitteln beziehungsweise den Schülerinnen und Schülern zu ermöglichen? Ist es nicht jetzt an der Zeit, Formen der Unterrichtung und Bildung zu entwickeln, die dies alles aufgreifen und möglichst viele Schüler*innen, Lehrer*innen, Eltern daran teilhaben zu lassen?


Es werden jetzt neue Wege eingeschlagen, die die Schule in ihre Zukunft führen. Die Waldorfpädagogik sollte zumindest den Versuch wagen, sich an der Gestaltung und der Richtungsführung dieser Wege zubeteiligen. Das ist sie allen Schülerinnen und Schülern schuldig, die heute und in Zukunft unterrichtet werden.


Lieber Herr Musmann, vielleicht können wir in diesen Fragen ins Gespräch kommen, im Gespräch bleiben. Vielleicht ist das der Beginn des Austauschs, den ich meine.


Ich grüße Sie ganz herzlich,


Andrea Fathy



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Hier ist der Beitrag von Andrea Fathy nachzulesen: Schule gemeinsam gestalten, veröffentlicht auf Keime für die Zukunft am 21. Oktober 2020.


Hier geht`s zum Artikel Schule gemeinsam gestalten Teil 2, ein Text von Wolf-Dieter Musmann als Antwortschreiben an Andrea Fathy, der am 8. März 2021 auf Keime für die Zukunft veröffentlicht wurde.

  • 23. März 2021
  • 2 Min. Lesezeit

Die Pandemie hält die Welt weiter in Atem. Diskussionen und Nachrichten über Inzidenzen, Ausgangssperren und den Tod reduzieren den Mensch in seiner blühenden Einzigartigkeit hin auf rein überprüfbare Fakten. Über diese Tendenz hinaus weiterhin allumfassend zu denken, dazu möchte dieser Artikel anregen. Den einzelnen Menschen als schöpferisches Wesen zwischen Himmel und Erde zu sehen. Ein Gedankengang von Thorsten Hartmann

Bild: pixabay.com


„Ach, Du bist`s, lebst Du auch noch?“ freute sich mein Gesprächspartner am Telefon. Zuerst hatte ich etwas anderes auf den Lippen, aber dann war ich nur ironisch: „Wie Du hörst“. Später dachte ich, dass er genau ins Schwarze getroffen hatte. Er hatte mich gemeint, nur mich. Meine Wirklichkeit, meinen Zustand. Er hatte nicht die Denkschablone angelegt, die gegenwärtig wie ein Netz über alle geworfen wird und mit der seit einem Jahr Menschen gewichtet und eingeordnet werden.


Anfangs war das noch in Ordnung, doch nach und nach wurde daraus eine Orgie. Abstrakte Zahlen, Statistiken und Kennziffern liegen wie Blei über dem Leben. Der Einzelne ist für seine Nächsten unsichtbar, solange er nicht erkrankt - und dann wird er nicht als Mensch sichtbar, sondern als Messgröße.


Ungezählte demokratische Diskussionsrunden befassen sich zur Schande der Talkmaster*innen allein damit. Großer Schaden wird so unserer Gesellschaft zugefügt, weil wir uns auf dem Gebiet der Zwischenmenschlichkeit angewöhnen, in Maß, Zahl und Gewicht zu denken. Speziell der Demokratie ist das nicht besonders dienlich, weil zu oberflächlich.


Wir entfernen uns allmählich, nein, rasant von der Wirklichkeit, von der Wirklichkeit des Individuums, auf dem Inzidenzwerte und statistische Zahlen aufbauen. Sie sind für politische Entscheidungen unerlässlich, doch liegt eine Gefahr in der Aneignung statistischer Denkgewohnheiten und deren Übertragung auf das gesamte Leben einschließlich der inneren Gefühlswelt: Wir verlieren den Blick für das Individuum.


Diese Denkgewohnheiten gehören nicht ins Zwischenmenschliche. Dort muss man ins Einzelne gehen, den Einzelnen betrachten. In der Masse ist das natürlich unmöglich, weswegen auch jeder Mitmensch aufgefordert ist, sich stets um einen anderen zu kümmern, nicht erst dann, wenn es ihm (selbst) schlecht geht. Daraus, und nur daraus, entwickelt sich Neues. Das kann allerdings nicht mehr statistisch erfasst werden. Das Zwischenmenschliche ist aber da, so banal das auch klingt, es existiert und es entwickelt die Gesellschaft weiter.


Mehr und mehr zeigt sich als Folge der Pandemie: Wir bestehen zwar aus ähnlichen, materiell messbaren Körpern, doch auch aus nur individuell zu verstehenden (immateriellen) Seelen und unserem Geist. Mit dem sollten wir in der gegenwärtigen Pandemie unsere zwischenmenschliche Bande knüpfen. Mit ihm erkennen wir, wie alles ineinander greift, und auch, dass man uns Menschen nicht über einen Kamm scheren kann. Wir sind und bleiben Individuen! „Ach, Du bist‘s, erzähl mir doch mal, wie es Dir geht und wie Du das alles erlebst“.

  • 13. März 2021
  • 4 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 14. Sept. 2021

Das Gefühl der depressiven Stimmung kennen mit Sicherheit viele. Eine Sachlage nur noch hinsichtlich der negativen Apsekte zu betrachten, einen schlechten Tag haben. Klar. Aber was passiert mit einem Menschen, bei dem die Farbpalette des Lebens seit mehr als 20 Jahren nicht mehr facettenreich strahlt, sondern nur noch dunkle Schatten wirft.

Ein Erlebnisbericht von Antonia Witt

Foto: pixabay.com

„Würde man mich nachts mit lauter toten Menschen in einem Raum einsperren, wäre das für mich kein Problem. Wären es statt Menschen lauter tote Tiere, ich würde diese Nacht nicht überstehen. Das wäre die reinste Qual für mich. Ist das nicht völlig unverständlich?“, fragt mich meine Begleitung. „Ich finde das nicht unverständlich“, sage ich ruhig, „bei all dem, was du durchgemacht hast.“


Wir haben uns bei einem Workshop in Saarbrücken kennengelernt und neben unserer künstlerischen Ader entdeckt, dass wir beide auch gerne wandern gehen. Ich nenne zu ihrem eigenen Schutz nicht ihren richtigen Namen, sondern gebe ihr den Namen Sonja. Heute laufen wir zum zweiten Mal durch die Hügel des Saarlandes. Schritt für Schritt gehen wir dabei schwesterlich der eigenen Geschichte auf den Grund.


Wir laufen weiter und kommen an einem Biotop vorbei. Der Weg unter meinen Schuhen ist sandig. Nach einigen Momenten des Schweigens sagt Sonja: „Im Sommer riecht es hier wie am Meer. Wegen des Sandes, den Büschen und den Bäumen.“ Ich nicke. Das Gewicht meines Rucksacks erinnert mich daran, dass ich heute viel trinken sollte. Es ist ein herrlicher Sonnentag.


Ich versuche einfach still zu zuhören, zu atmen, klar im Kopf zu bleiben und nur ab und zu etwas zu sagen, wenn ich die Worte wahrlich in meinem Herzraum aufsteigen fühle. Ratschläge gebe ich keine, berichte nur ab und zu von meiner eigenen Erfahrung. Ich weiß, dass an diesem heutigen Tag meine Aufgabe im Zuhören liegt, so wie bei Momo.


Was mich an Sonja immer wieder überrascht, ist die Tatsache, dass bei allem, was sie in der Vergangenheit erlebt hat, im Kopf doch so klar scheint, obwohl sie zurzeit wieder Antidepressiva nimmt, da sie sonst die Situation nicht aushalte und sie wegen der starken Albträume nicht schlafen könne. Sie ist blitzgescheit, achtsam, suchend und ausgestattet mit großem Wissen über den Menschen. Sie hört mir mit großer Aufmerksamkeit zu. Die meiste Zeit wirkt sie geistig anwesend, keinesfalls abgestumpft oder in einer anderen Welt versunken. Vielleicht treffe ich sie aber auch immer nur an guten Tagen, das kann auch sein.


Eine Sache, die mir in den letzten Wochen durch die Psychologielektüre klar geworden ist, ist wie wichtig ein behütetes und liebevolles Umfeld gerade in den ersten Lebensjahren ist. Natürlich bringt die Seele, wenn sie sich hier auf der Erde inkarniert, schon gewisse Strukturen und Anlagen mit, doch Traumata, physischer oder psychischer Missbrauch sind in der Kindheit so gravierend, dass die Person viele Jahre ihres Lebens, manchmal ein Leben lang unter den Folgen zu leiden hat. Es muss sich nicht zwingend in einer dissoziativen Identitätsstörung, auch bekannt unter dem Namen der Multiplen Persönlichkeitsstörung, niederschlagen. Doch was Sonja mir von sich erzählt, beschäftigte mich noch Tage danach.


Als wir an einem klaren Bach vorbeikommen, muss ich unser Gespräch kurz anhalten, um mir mit Wasser Gesicht und Hände zu kühlen. „Ich glaube, dass ich in meinem Leben bisher nur ein halbes Jahr lang glücklich war. Das ist definitiv zu wenig!“, sagt Sonja dann.


In meinem Inneren hallen Sonjas Worte wie in einer Echokammer nach. Manchmal war ihre Depression so schlimm, dass sie noch nicht mal mehr Karotten in der Küche schälen konnte. Nur mithilfe von Medikamenten kann sie sich in schlimmeren Phasen der Dysthymie in den Griff bekommen. Auf diese Weise konnte sie Urlaube ertragen, nicht genießen.


Seit mehr als 20 Jahren leidet Sonja unter Depression. Ihr wurde eine selbstunsicher, ängstlich-vermeidende Persönlichkeitsstörung diagnostiziert und sie hat mit Angststörungen und Panikattacken gerade in Prüfungssituationen zu kämpfen. Mit der Zeit kam dann die Diagnose Dysthymie. Eine Dysthymie ist eine chronische Depression und muss über mindestens zwei Jahre bestehen. Ausgelöst werden kann sie zum Beispiel durch traumatische Erfahrungen in der Kindheit, etwa durch Gewalt.


Während wir einen steilen Abhang hinunter gehen fragt mich Sonja, ob ich schon mal jemanden getroffen hätte, der mit Depression zu tun hat. „Es ist so, als wäre das glitzernde Leben wie durch einen Vorhang vor mir abgeschirmt“, erzählt sie mir. Freudlosigkeit und Antriebslosigkeit dominieren den Alltag. Oftmals fehle der Sinn im Leben. Es sei wie ein Leben tief im Loch. „Suizidgedanken hatte ich schon sehr oft. Und was die Hoffnungslosigkeit noch verschlimmert ist, dass es scheint, als könne mir niemand wirklich helfen und meine Fragen beantworten. Keine der vielen Behandlungsmethoden war so richtig erfolgreich.“


Heute an diesem Tag sehen wir beide nach dem langen Winter den ersten Schmetterling, einen Zitronenfalter. Es ist ermutigend. Wir gehen den kleinen Berg hoch, umgeben von Birkenbäumen und mit der Zeit gesellt sich ein zweiter Schmetterling dazu, dessen Namen ich nicht kenne.


Als wir an unserem heutigen Ziel ankommen, einer Aussichtsplattform, stehen wir für ein paar Minuten einfach schweigend nebeneinander und schauen in die Landschaft, die sich unter unseren Blicken auftut. Ich bin in Gedanken versunken. Nach einer Weile schaue ich zu Sonja, die links von mir steht. Ihre Gesichtszüge werden wie durch ein schweres Gewicht heruntergezogen. Mir fällt ein, dass sie zuhause viel weint. Ich atme einmal tief durch.


Auf dem Rückweg unterhalten wir uns über fröhliche Dinge. Es scheint, als sei das ununterbrochene Redebedürfnis über ihre schwere Last wie weggeblasen. Zumindest für einen Moment, so hoffe ich.


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Für alle, die noch mehr wissen wollen:



• Podcast jung & freudlos, Folge vom 12. Juli 2019, Dysthymie und Double Depression



• Deutsche DepressionsLiga e.V., hier

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