Die Fortsetzung des Gesprächs: Frau Andrea Fathy antwortet auf das Schreiben von Wolf-Dieter Musmann mit Blick auf den Austausch zwischen dem öffentlichen Bildungssystem und der Waldorfpädagogik, dessen Anfänge hier nachzulesen sind. Text: Andrea Fathy
Bild: pixabay.com
Lieber Herr Musmann,
herzlichen Dank für Ihren Brief und Ihre Antwort auf meinen ersten Beitrag auf „Keime für die Zukunft". Es hat mich gefreut, Ihre Einschätzungen und Anmerkungen zu lesen und ich will Ihnen gerne antworten.
Die Verantwortung, die die Vertreter der Waldorfpädagogik übernommen haben, indem sie Schulen gegründet haben, diese betreiben und durch alle möglichen Höhen und Tiefen führen ohne ihre Ziele und Ideale aufzugeben, kann nicht hoch genug geschätzt und gewürdigt werden. Meines Wissens ist die Waldorfschule die einzige Schulform, die es über inzwischen mehr als 100 Jahre geschafft hat, sich in ihren pädagogischen Anliegen, ihren geistgen Grundlagen und deren konsequenter Umsetzung treu zu bleiben.
Gerade weil ich die Waldorfpädagogik so hoch schätze, stellt sich mir die Frage, wem sie zu Gute kommen kann/ soll? Im Saarland gibt es drei Waldorfschulen und dann noch die Johannesschule und die Anna Betzner Schule als Waldorfschulen für Kinder mit Förderbedarf.
Im Grunde sind alle diese Waldorfschulen ja Schulen für die Schülerinnen und Schüler ihrer Region. Manche Schüler*innen besuchen diese Waldorfschule von der 1. bis zur 13. Klasse, manche wechseln während ihrer Schullaufahn von einer Grundschule oder einer weiterführenden Schule an eine Waldorfschule, manche verlassen die Waldorfschule auch wieder und werden Schülerinnen und Schüler des öffentlichen Schulsystems.
Die Fragen, die die Schülerinnen und Schüler heute mitbringen sind im Großen und Ganzen die gleichen, ob sie nun eine Waldorfschule oder eine öffentliche Schule besuchen. Die Antworten, die die Schulen suchen, um die von allen am Bildungssystem Beteiligten gerungen wird, sind aber sehr vielfältg.
Wäre es da nicht hilfreich und sinnvoll, wenn man zu einem Austausch kommt, um sich bei diesem Suchen nach Antworten gegenseitg zu unterstützen?
Ich würde gerne ein Gedankenexperiment wagen, das ganz niederschwellig ist und im Rahmen aller derzeit bestehenden rechtlichen Rahmenbedingungen, aber vielleicht gerade deshalb gewagt:
Lehrer*innen der Waldorfschulen nehmen an den vom Bildungsministerium initierten Landesfachkonferenzen der einzelnen Fächer oder an Lehrplankommissionen teil und bringen ihre Erfahrungen mit ein, lernen die Ansichten und Erfahrungen öffentlicher Schulen kennen. Das Bindeglied wäre das gemeinsame Anliegen, dass alle Schülerinnen und Schülern inhaltlich und methodisch dasjenige lernen, was sie in ihrer Entwicklung zu selbstbestimmten Persönlichkeiten unterstützt.
Auch in den Aufgabenkommissionen für die HSA und MBA Prüfungen könnten Kolleginnen und Kollegen der Waldorfschulen ihren Platz fnden. Zum einen würde das Gefühl der Waldorfschule „vom Staatfremd bestimmt zu werdent" relativiert, weil man zum einen (im günstigsten Fall) nachvollziehen kann, weshalb bestimmte Prüfungsaufgaben so gestellt werden und (im allergünstgsten Fall) können die Kolleginnen und Kollegen der Waldorfschulen dazu beitragen, dass die Prüfungen eine sinnvolle Form erhalten, so dass auch alle anderen Schüler*innen davon profitieren können.
Nicht zuletzt sieht die Prüfungsordnung zum Erwerb des Mittleren Bildungsabschlusses an Waldorfschulen ausdrücklich vor, dass die Waldorfschulen Prüfungsvorschläge für das Fach Deutsch einbringen, die sich auf den besonderen Literaturkanon der Waldorfschule beziehen.
Gerade in der aktuellen Lage vervielfachen sich die Herausforderungen an das Bildungssystem. Was die Kinder derzeit an Mangel erleben, indem sie abgeschnitten sind von existentellen Sozialkontakten, sich Lernen reduziert auf mediengestützte digitale Prozesse, Angst, Unsicherheit und Panik allgegenwärtg sind, wird für alle Schulen und alle Lehrerinnen und Lehrer in den nächsten Jahren neue, kreative Lösungen notwendig machen.
Im Moment sind fast alle rechtlichen Rahmenbedingungen offen und gelockert. Was hilfreich und sinnvoll ist, kann ausprobiert werden. Was sich bewährt, wird in der Zeit, wenn wieder ein „normaler Schulbetrieb" stattfindet, beibehalten, verbessert und verbindlich werden können.
Gehört es nicht zu den ureigensten Grundlagen der Waldorfpädagogik Sinnenschulung, Bewegung, Naturerlebnisse, reale Zusammenhänge zu vermitteln beziehungsweise den Schülerinnen und Schülern zu ermöglichen? Ist es nicht jetzt an der Zeit, Formen der Unterrichtung und Bildung zu entwickeln, die dies alles aufgreifen und möglichst viele Schüler*innen, Lehrer*innen, Eltern daran teilhaben zu lassen?
Es werden jetzt neue Wege eingeschlagen, die die Schule in ihre Zukunft führen. Die Waldorfpädagogik sollte zumindest den Versuch wagen, sich an der Gestaltung und der Richtungsführung dieser Wege zubeteiligen. Das ist sie allen Schülerinnen und Schülern schuldig, die heute und in Zukunft unterrichtet werden.
Lieber Herr Musmann, vielleicht können wir in diesen Fragen ins Gespräch kommen, im Gespräch bleiben. Vielleicht ist das der Beginn des Austauschs, den ich meine.
Ich grüße Sie ganz herzlich,
Andrea Fathy
--
Hier ist der Beitrag von Andrea Fathy nachzulesen: Schule gemeinsam gestalten, veröffentlicht auf Keime für die Zukunft am 21. Oktober 2020.
Hier geht`s zum Artikel Schule gemeinsam gestalten Teil 2, ein Text von Wolf-Dieter Musmann als Antwortschreiben an Andrea Fathy, der am 8. März 2021 auf Keime für die Zukunft veröffentlicht wurde.