Das Gefühl der depressiven Stimmung kennen mit Sicherheit viele. Eine Sachlage nur noch hinsichtlich der negativen Apsekte zu betrachten, einen schlechten Tag haben. Klar. Aber was passiert mit einem Menschen, bei dem die Farbpalette des Lebens seit mehr als 20 Jahren nicht mehr facettenreich strahlt, sondern nur noch dunkle Schatten wirft.
Ein Erlebnisbericht von Antonia Witt
Foto: pixabay.com
„Würde man mich nachts mit lauter toten Menschen in einem Raum einsperren, wäre das für mich kein Problem. Wären es statt Menschen lauter tote Tiere, ich würde diese Nacht nicht überstehen. Das wäre die reinste Qual für mich. Ist das nicht völlig unverständlich?“, fragt mich meine Begleitung. „Ich finde das nicht unverständlich“, sage ich ruhig, „bei all dem, was du durchgemacht hast.“
Wir haben uns bei einem Workshop in Saarbrücken kennengelernt und neben unserer künstlerischen Ader entdeckt, dass wir beide auch gerne wandern gehen. Ich nenne zu ihrem eigenen Schutz nicht ihren richtigen Namen, sondern gebe ihr den Namen Sonja. Heute laufen wir zum zweiten Mal durch die Hügel des Saarlandes. Schritt für Schritt gehen wir dabei schwesterlich der eigenen Geschichte auf den Grund.
Wir laufen weiter und kommen an einem Biotop vorbei. Der Weg unter meinen Schuhen ist sandig. Nach einigen Momenten des Schweigens sagt Sonja: „Im Sommer riecht es hier wie am Meer. Wegen des Sandes, den Büschen und den Bäumen.“ Ich nicke. Das Gewicht meines Rucksacks erinnert mich daran, dass ich heute viel trinken sollte. Es ist ein herrlicher Sonnentag.
Ich versuche einfach still zu zuhören, zu atmen, klar im Kopf zu bleiben und nur ab und zu etwas zu sagen, wenn ich die Worte wahrlich in meinem Herzraum aufsteigen fühle. Ratschläge gebe ich keine, berichte nur ab und zu von meiner eigenen Erfahrung. Ich weiß, dass an diesem heutigen Tag meine Aufgabe im Zuhören liegt, so wie bei Momo.
Was mich an Sonja immer wieder überrascht, ist die Tatsache, dass bei allem, was sie in der Vergangenheit erlebt hat, im Kopf doch so klar scheint, obwohl sie zurzeit wieder Antidepressiva nimmt, da sie sonst die Situation nicht aushalte und sie wegen der starken Albträume nicht schlafen könne. Sie ist blitzgescheit, achtsam, suchend und ausgestattet mit großem Wissen über den Menschen. Sie hört mir mit großer Aufmerksamkeit zu. Die meiste Zeit wirkt sie geistig anwesend, keinesfalls abgestumpft oder in einer anderen Welt versunken. Vielleicht treffe ich sie aber auch immer nur an guten Tagen, das kann auch sein.
Eine Sache, die mir in den letzten Wochen durch die Psychologielektüre klar geworden ist, ist wie wichtig ein behütetes und liebevolles Umfeld gerade in den ersten Lebensjahren ist. Natürlich bringt die Seele, wenn sie sich hier auf der Erde inkarniert, schon gewisse Strukturen und Anlagen mit, doch Traumata, physischer oder psychischer Missbrauch sind in der Kindheit so gravierend, dass die Person viele Jahre ihres Lebens, manchmal ein Leben lang unter den Folgen zu leiden hat. Es muss sich nicht zwingend in einer dissoziativen Identitätsstörung, auch bekannt unter dem Namen der Multiplen Persönlichkeitsstörung, niederschlagen. Doch was Sonja mir von sich erzählt, beschäftigte mich noch Tage danach.
Als wir an einem klaren Bach vorbeikommen, muss ich unser Gespräch kurz anhalten, um mir mit Wasser Gesicht und Hände zu kühlen. „Ich glaube, dass ich in meinem Leben bisher nur ein halbes Jahr lang glücklich war. Das ist definitiv zu wenig!“, sagt Sonja dann.
In meinem Inneren hallen Sonjas Worte wie in einer Echokammer nach. Manchmal war ihre Depression so schlimm, dass sie noch nicht mal mehr Karotten in der Küche schälen konnte. Nur mithilfe von Medikamenten kann sie sich in schlimmeren Phasen der Dysthymie in den Griff bekommen. Auf diese Weise konnte sie Urlaube ertragen, nicht genießen.
Seit mehr als 20 Jahren leidet Sonja unter Depression. Ihr wurde eine selbstunsicher, ängstlich-vermeidende Persönlichkeitsstörung diagnostiziert und sie hat mit Angststörungen und Panikattacken gerade in Prüfungssituationen zu kämpfen. Mit der Zeit kam dann die Diagnose Dysthymie. Eine Dysthymie ist eine chronische Depression und muss über mindestens zwei Jahre bestehen. Ausgelöst werden kann sie zum Beispiel durch traumatische Erfahrungen in der Kindheit, etwa durch Gewalt.
Während wir einen steilen Abhang hinunter gehen fragt mich Sonja, ob ich schon mal jemanden getroffen hätte, der mit Depression zu tun hat. „Es ist so, als wäre das glitzernde Leben wie durch einen Vorhang vor mir abgeschirmt“, erzählt sie mir. Freudlosigkeit und Antriebslosigkeit dominieren den Alltag. Oftmals fehle der Sinn im Leben. Es sei wie ein Leben tief im Loch. „Suizidgedanken hatte ich schon sehr oft. Und was die Hoffnungslosigkeit noch verschlimmert ist, dass es scheint, als könne mir niemand wirklich helfen und meine Fragen beantworten. Keine der vielen Behandlungsmethoden war so richtig erfolgreich.“
Heute an diesem Tag sehen wir beide nach dem langen Winter den ersten Schmetterling, einen Zitronenfalter. Es ist ermutigend. Wir gehen den kleinen Berg hoch, umgeben von Birkenbäumen und mit der Zeit gesellt sich ein zweiter Schmetterling dazu, dessen Namen ich nicht kenne.
Als wir an unserem heutigen Ziel ankommen, einer Aussichtsplattform, stehen wir für ein paar Minuten einfach schweigend nebeneinander und schauen in die Landschaft, die sich unter unseren Blicken auftut. Ich bin in Gedanken versunken. Nach einer Weile schaue ich zu Sonja, die links von mir steht. Ihre Gesichtszüge werden wie durch ein schweres Gewicht heruntergezogen. Mir fällt ein, dass sie zuhause viel weint. Ich atme einmal tief durch.
Auf dem Rückweg unterhalten wir uns über fröhliche Dinge. Es scheint, als sei das ununterbrochene Redebedürfnis über ihre schwere Last wie weggeblasen. Zumindest für einen Moment, so hoffe ich.
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Für alle, die noch mehr wissen wollen:
• Podcast jung & freudlos, Folge vom 12. Juli 2019, Dysthymie und Double Depression
• Dokumentation von 3sat, Neustart fürs Gehirn: Wege aus der Depression
• Deutsche DepressionsLiga e.V., hier
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