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  • 10. Mai 2021
  • 12 Min. Lesezeit

Was bedeutet es alt zu werden und zu sein? Welche Herausforderungen bringt das Alter mit sich und wie begleitet man Menschen auf den letzten Schritten ihres irdischen Lebens. Ein Gespräch mit dem Vorstand von anders alt werden e.V. - über den Kreislauf des Lebens, den Abschied und die Jugend.

Ein Interview von Antonia Amrei Witt

Bild: pixabay.com


Über den Verein anders alt werden


1999 wurde der Verein anders alt werden gegründet, allerdings trug er da noch den Namen Verein für zukünftige Lebensgestaltung im Alter e. V. Prägend dafür waren Gedanken, was es heißt, älter zu werden und wie man im Alter weiter aktiv bleiben kann. Gleichzeitig bestand zur damaligen Zeit ein starkes Suchen danach, sich Gedanken zu machen, was Leben und Sterben bedeutet.


Es entstand so die Idee des gemeinschaftlichen Wohnens: In individuellen Räumlichkeiten eines großen Hauses zusammen alt werden. Ein Therapeutikum mit verschiedenen Therapien wie Eurythmie oder Physiotherapie sollte dem angegliedert werden. Innerhalb des Vereins gab es das Streben danach, einen Ort zu finden, an dem das Geistesleben der Personen gestärkt und an dem inhaltlich und medizinisch anders miteinander gearbeitet wird.


Es sollten Begegnungen stattfinden, die durch das anthroposophische Menschenbild geprägt sind. In verschiedenen Städten, darunter Überlingen, Bielefeld, Frankfurt und Stuttgart, wurden Erkundigungen bei anderen Projekten über deren Erfahrung mit dem gemeinschaftlichen Wohnen eingeholt. Es gab auch Ansätze architektonischer Pläne für ein Haus des gemeinschaftlichen Wohnens.


In verschiedenen Arbeitskreisen des Vereins wurde zu diesen Themen ernsthaft gearbeitet (z.B.: Gemeinschaftliches Wohnen, Grundlagen der Anthroposophie, das Sterben, das Leben nach dem Tod, Finanzen, Vorstandsarbeit etc.). Vielfältige Impulse gingen aus diesen Arbeitskreisen hervor.


Die Idee der demokratischen Mitarbeit war stets präsent. So gab es einen großen und einen kleinen Initiativkreis und einen Vorstand mit sehr vielen Beiräten. Grundlage für die Arbeit in den Gremien und in der aktiven Gestaltung des Organismus war das Anliegen der Entwicklung eines Ausgleichs zwischen „ Herz- und Kopfkräften“. Die Initiativkraft des Vereins blieb so lebendig.


Im weiteren Verlauf der Vereinsgeschichte kam es 2008/2009 zu einer Krise. Es wurde ersichtlich, dass aus den vielen Arbeitskreisen keine gemeinsame Initiativkraft hervorging, um ein großes Projekt wie das des gemeinschaftlichen Wohnens tatsächlich zu starten. Die Kräfte von „Herz und Kopf“ innerhalb des Vereins waren aus dem Gleichgewicht geraten. Während einer Mitgliederversammlung wurde klar, dass der Verein kein Haus aus Stein bauen würde. Im Zuge dieses Umbruchs traten viele Mitglieder aus dem Verein aus.


Heute bietet der Verein anders alt werden einen Besuchsdienst im niederschwelligen Angebot für ältere Menschen an. Es geht darum, die Gemeinschaft im Alter weiter zu stärken, empathische Verbindungen zwischen den Menschen aufzubauen mit dem langfristigen Ziel eines ambulanten Pflegedienstes im Sinne des anthroposophischen Menschenbildes.


Mehr Information zu dem Verein anders alt werden gibt es hier .


Das nachfolgende Interview mit dem Vorstand von anders alt werden wurde am 24.03.2021 in Saarbrücken geführt, es fand im Freien statt und mit Abstand zwischen den Teilnehmer*innen.


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Antonia Witt: Es hieß, dass du, Ute, kurz nach der Gründungsphase dem Verein anders alt werden beigetreten bist. Darf ich dich bitten, dazu etwas zu erzählen?


Ute Seibert: Die Initiativkraft ging damals von einem kleinen Kreis aus. Das waren Menschen, die den Impuls des miteinander Wohnens und anders-alt-werdens aus ihrem anthroposophischen Menschenbild heraus gerne auf den Weg gebracht hätten. Denn zu der Zeit war uns klar, dass wir später nicht in Altenheimen alt werden wollten. Daher kommt der Gedanke des anders-alt-werdens, also in Wohngemeinschaften mit Menschen, die sich gegenseitig unterstützen und Kompetenzen austauschen.


Christian Schwartz: Im Verein beschäftigte uns zu jener Zeit der Gedanke von „50-plus“ und uns war klar, dass wir aktiv werden und gemeinsam etwas aufbauen müssen. Wir wollten gedanklich weiter miteinander arbeiten und zum Beispiel künstlerisch aktiv sein. Durch den Austausch sollte das Geistesleben in einem selbst gestärkt werden, sodass man im Alter nicht hinten abfällt.


Reinhold Kirch: Die Idee des gemeinsamen Wohnens konnten wir aber aus verschiedenen Gründen nicht realisieren. Irgendwann hatten wir dann den Gedanken eines Besuchsdienstes mit dem langfristigen Ziel einen ambulanten Pflegedienst aufzubauen. Das Problem bei unserem Verein ist aber, dass wir alle schneller alt werden, als gedacht. Lacht.


Birgit Kirch: Ende 2011 gab es dann eine Mitgliederversammlung, bei der wir eine Satzungsänderung beschlossen haben, dass wir nicht mehr ein Wohnprojekt als satzungsgemäßes Ziel anstreben, sondern einen ambulanten Pflegedienst gründen wollen. Dem Ziel sind wir aber noch nicht richtig nähergekommen, weil wir eine Pflegedienstleitung brauchen, die bereits fünf Jahre Berufserfahrung hat und anthroposophisch ausgebildet ist.


Antonia: Man kann also alt werden und man kann anders alt werden. Bitte beschreibt das.

Georg Siryj: Ich hatte einmal gesagt, es sollte nicht heißen „anders alt werden“, sondern „länger jung bleiben“.

Antonia: Und wie bleibt man lange jung?


Georg: Das sogenannte anthroposophische Menschenbild wurde unserer Tätigkeit zugrunde gelegt. Der Anthroposophie kann man sich nur annähern, wenn man es wie eine Art Hunger oder Durst empfindet. Tatsächlich. Dann ist das ein klarer Weg.

Ute: Wir betrachten uns selbst im Sinne des anthroposophischen Menschenbildes. Also den alten Menschen nicht an seinen Defiziten zu bemessen, sondern an den Ressourcen. Die herkömmlichen Pflege- und Wohnmodelle gehen immer von dem aus, was nicht mehr funktioniert und nicht mehr da ist. Den Ehrenamtlichen, die wir jetzt im niedrigschwelligen Angebot schulen, vermitteln wir, die persönlichen Belange eines Menschen zu sehen und keine Form überzustülpen. Es geht um die Fähigkeit des Begleitens und um das Gleichgewicht von Geben und Nehmen. Und darum, wie die Menschen miteinander in die Begegnung gehen, also diese Feinfühligkeit mit den Menschen in Resonanz zu gehen und zu sehen, was stimmig ist.


Antonia: Wenn man berücksichtigt, dass der Tod eine Geburt in die geistige Welt ist, dass jedem Menschen gegenüber eine liebevolle Beziehung eigentlich Voraussetzung sein müsste, was heißt es dann, ältere Menschen während des Sterbens zu begleiten?


Georg: Ich kann von mir sagen, dass ich immer nur sehr kranke, nicht alte Menschen begleitet habe. Das ist eine andere Situation. Bei diesen Menschen war der Schmerz und nicht der Tod im Vordergrund.


Christian: Also mehr die Frage danach, warum bin ich eigentlich krank.

Georg: Es ist die Frage nach dem Gesundwerden, unabhängig vom Körperlichen. Da hab ich gemerkt, dass das Seelische von dem Kranken mitgerissen und festgehalten wird. Dann entstehen Aggressionen und all die anderen unschönen Dinge. Ohne eine Art Selbsterziehung wird es besonders in solchen Situationen schwer.


Ute: Wir sterben im Leben viele kleine Tode. Viktor Frankl sagte, dass man das Leben so sehen kann, dass mit jedem Einatmen und Ausatmen ein kleiner Tod gestorben wird. Wenn ich mir das bewusst mache, auch innerhalb der Biographiearbeit, was waren die kleinen Tode, die ich gestorben bin und wie bin ich damit umgegangen, wie habe ich mich da wieder regeneriert und Lebensmut und Lebensfreude geschöpft, dann kann das am Ende des Lebens sehr helfen. Wenn ältere Menschen eine Unterstützung haben können, die sie dort abholt, wo der einzelne Mensch gerade steht, wenn also eine Begleitung auch die Trauer mit aushalten kann, die in dieser Phase des Lebens oft besteht, dann wird der eine wie der andere sehr beschenkt.


Christian: Als mein Vater sich gelöst hat, habe ich eine tiefe Erfahrung gemacht. Er hat richtig gekämpft und gerungen und mir war klar, der muss noch etwas abarbeiten. Dieser Kampf wurde aber durch die Gabe einer Morphium Spritze abgeschnitten. Ich hätte eingreifen müssen, doch es ist mir zum damaligen Zeitpunkt nicht gelungen. Das Sterben eines Menschen ist sehr individuell. Meine Schwiegermutter zum Beispiel ist sanft vom Diesseits ins Jenseits entschlafen. Und bei jungen Menschen ist der Sterbeprozess noch einmal anders. Dazu hat auch Rudolf Steiner viele Hinweise gegeben.


Reinhold: Mit deinem heutigen Wissen, was hättest du denn bei deinem Vater anders gemacht?


Christian: Ich hätte nicht zugelassen, dass er diese Morphium Dosis bekommt. Ich hätte ihn fest an die Hand genommen, hätte ihn halbwegs umarmt und dann hätte er sich sicherlich beruhigt. Viele Menschen hatten zu diesen Zeiten Angst, einen Sterbenden überhaupt auch nur anzufassen. Ich denke, dazu ist im Vergleich zu damals, heute schon sehr viel passiert. Es gab damals sehr komische Vorstellungen von der Bestattung allgemein, über die Beziehung zum Verstorbenen oder was durch den Tod eigentlich passiert. Es war zum Beispiel nicht mehr so selbstverständlich, wie noch davor, dass der Verstorbene zuhause aufgebahrt wird.


Reinhold: Von meinen Verwandten weiß ich noch, dass sie in der guten Stube („in der Gudd Stub“) aufgebahrt wurden, da war es kühl und dort konnte sich jeder in Ruhe verabschieden. In den 60ern war es noch normal, dass die Menschen zuhause gestorben sind und dort nach dem Tod auch einige Tage blieben.


Antonia: Wolltest du vorher etwas sagen, Georg?


Georg: Mir geht immer wieder durch den Kopf, dass der Tod eine Frage nach der Sinnhaftigkeit des Lebens ist. Wenn ich mich selbst frage, ich bin ja noch nicht so alt, dann fühle ich, dass ich noch nicht fertig bin. Ich habe hier noch eine Art Sinn zu erfüllen und das will ich auch. Wenn man stirbt, gibt man die Verbindung zum Leiblichen hin. Es ist eine Art zurücklassen. Das ist sehr schwierig. Denn die Identifikation mit dem Körper, dem Leib ist während des Lebens oft sehr stark. Wenn es fast zu stark ist, dann gibt es dafür Krankheiten. Das ist heute die Gefahr, dass man mit dem Physischen zu stark verbunden ist.


Birgit: Als meine Schwiegermutter im Alter sehr dement wurde, konnte ich damit nicht umgehen. Das war mir so fremd und erschreckend. Später habe ich mehrere Schulungen besucht und konnte dort sehr viel für mich lernen. Als meine eigene Mutter dann an Demenz erkrankte, konnte ich auf sie viel geduldiger und empathischer eingehen. Und die Zeit war für uns alle angenehmer. Ich habe das Gefühl, dass ich meine Mutter durch die Arbeit in dem Verein auch besser zum Sterben begleiten konnte.


Antonia: Es gab neulich einen Filmbeitrag, in dem es darum ging, wie Musik auf demente Menschen wirkt. Man hat ihnen Musik vorgespielt, die sie früher gerne gehört haben und es war erstaunlich, dass diese oft so schläfrig wirkenden Menschen noch einmal präsent waren. Wenn man geistig fit im Alter sein kann, hat man schon viel erreicht.


Ute: Da muss man mit den Worten sehr vorsichtig sein. Geistig fit bezieht sich auf das Kognitive. Geistig heißt auch, wie kann ich mich wieder so vergeistigen, dass ich in die geistige Welt übergehen kann. Das steht schon in der Bibel: Werdet wie die Kinder, damit ihr eingeht in das Himmelreich. Also bedeutet es auch, wir können alten Menschen da eine Stütze sein. Zum Beispiel mit der Biographiearbeit, dass man den Menschen dort abholt, wo er gerade in seinem Vergeistigen, seiner körperlichen Degeneration ist. Sich von dem Irdischen zu verabschieden ist unheimlich komplex.

Georg: Eine Sache, die für mich da hineinspielt, ist die Frage nach der Schuld.Wenn die Menschen in ihrem Leben Schuld auf sich laden und dann vor dem Tod damit zurechtkommen müssen. Mein Vater zum Beispiel ist mit dem Hass im Herzen gestorben. Dabei ist das Verzeihen ein wichtiger Prozess. Dieses „Vergib uns unsere Schuld“. Denn Verzeihen ist ein Sterbeprozess.


Ute: Wenn man das Gefühl hat, Schuld auf sich genommen zu haben, hat man vielleicht die Möglichkeit, das Gegenüber danach zu fragen, ob es das auch so sieht. Erst im Rückblick kann man bestimmte Dinge bewerten. In der Situation werde ich es nach bestem Wissen und Gewissen tun.


Reinhold: Ich ärgere mich, dass ich meinen Vater nicht mehr gefragt habe. Also mich neben ihn zu setzen und zu sagen, erzähl doch mal. Das wird mir in meinem Alter jetzt bewusst, dass ich da etwas versäumt habe. Man denkt, das Leben geht immer so weiter, dass es aber eines Tages vorbei ist, hat man nicht im Bewusstsein.

Antonia: Meine nächste Frage ist, was das Alter für euch persönlich bedeutet.


Birgit: Man wird gelassener. Die Ansprüche werden immer weniger. Ich muss nicht mehr so viel konsumieren. Ich muss nicht mehr so viel in den Urlaub fahren. Ich kann mich an den kleinen Dingen erfreuen und versuche, das was ich um mich habe, so gut es geht zu genießen. Mit 60 bin ich aus dem Beruf raus und habe mir noch 20 Jahre gegeben. Davon habe ich nun schon neun verbraucht. Lacht.


Antonia: Lacht. So ein Mist.


Birgit: Es sind jetzt nur noch 11 da und so lange geht es nicht mehr. Die Frage ist dann, was noch wirklich wichtig ist und worüber ich mich gar nicht mehr zu ärgern brauche. Im Alter muss man vieles hergeben, sich verkleinern und die Frage stellen, wie man sein Geld einsetzt.


Reinhold: Mir ist wichtig, dass sich nicht immer alles um einen selbst dreht und man auch etwas für andere tut. Das erfüllt mich mit Zufriedenheit. Bei vielen älteren Menschen, die ich kenne, sind die einzigen Gedanken, wohin sie als nächstes in Urlaub fahren. Die empfinden die Pandemie jetzt als sehr schrecklich, weil es weniger äußere Ablenkung von sich selbst gibt.


Antonia: Christian, was denkst du denn zurzeit?


Christian: Ich versuche, das bei mir selbst nachzuvollziehen.Ich bin wahnsinnig neugierig auf alles und stehe jeden Morgen mit großer Freude auf.Das hat nicht nachgelassen. Weil ich so viel noch machen möchte, vergesse ich das Alter ab und zu. Ich denke auch nicht darüber nach, was alles Schlimmes passieren könnte. Bestimmte Betrübnisse tauchen im Alter aber doch auf. Die Haut ist zum Beispiel nicht mehr so frisch wie früher und muss mehr geölt werden. Früher habe ich viel leichtfertiger über Dinge gesprochen, obwohl ich sie gar nicht erfahren hatte. Heute bin ich da viel vorsichtiger.

Georg: Ute, du hast noch nicht gesagt, was das Alter für dich bedeutet.


Ute: Mich haben mein Leben und mein Job so geprägt, dass ich nichts auf die lange Bank schiebe und versuche im Hier und Jetzt zu leben. Die Arbeit mit älteren Menschen empfinde ich sehr bereichernd, auf eine seelische und geistige Art. Ich entdecke auch immer wieder, wie einzigartig das Gebilde Mensch doch ist.


Antonia: Wollt ihr zu dem Begriff der werktätigen Liebe* noch etwas sagen?


Birgit: Das geht wohl in eine ähnliche Richtung, wie das was wir im Besuchsdienst des Vereins tun. Ich habe mal eine alte Dame begleitet, sie war depressiv. Wenn ich weggegangen bin, wusste ich oft nicht, ob es ihr etwas gegeben hat. Aber manchmal konnte sie es formulieren, dass es sie sehr freut, dass ich da bin. Denn sie bekam wenig Besuch.


Ute: Wenn man es in die Richtung Selbstlosigkeit denkt, dann hat das selbstlose Tun auch immer etwas für einen selbst. Man bekommt immer wieder kleine Geschenke nichtmaterieller Art zurück. Das nährt uns auch.

Georg: Diese werktätige Liebe ist schon so ein Thema. Denn dieses Ernähren kommt durch eine bestimmte Haltung zustande. Wenn ich die nicht finde, schließt sich der Kreis nicht. Denn im Prinzip ist es ein Geben und Nehmen. Und dann bin ich richtig glücklich.Dabei muss ich mich schonungslos hinterfragen, mit wie viel Egoismus ich bestimmte Dinge für andere Menschen noch tue. Ich rücke mich immer wieder zurecht, dass ich nicht etwas „um-zu…“ tue.


Antonia: Was ich noch fragen möchte: Was ist der Wert des Alters. Also welche unsichtbare Bereicherung für die Gesellschaft geht von alten Menschen aus?

Reinhold: Für mich kann ich sagen, dass ich gelassener bin als früher. Das empfinde ich als einen Wert. Also ich lasse anderen Menschen ihre Überzeugung.


Christian: Ich bin immer neugierig auf die absolute Offenheit des Kindes. Eine Art Unbefangenheit ohne jeglichen Druck. Denn Kinder haben, wenn es gesund läuft, die absolute Freiheit.


Birgit: Aus der Anthroposophie weiß man, dass die Beziehung von jungen Kindern zu sehr alten Menschen sehr intensiv ist. Unsere Enkelin fühlt sich besonders zu Reinhold hingezogen, weil er so gelassen ist. Von ihm will sie auch viele Erzählungen hören, wie das früher alles so war. Das ist ein Privileg des Alters, weil man schon sehr viele Lebenserfahrungen gesammelt hat.


Antonia: Was könnt ihr aus eurer Erfahrung den jungen Menschen mitgeben und was ist euer Wunsch in Bezug auf den Verein anders alt werden?


Georg: Es hat mich als junger Mensch immer sehr erstaunt, was für ein Vertrauen mir meine anthroposophischen Lehrer*innen entgegengebracht haben. In der Art, dass ich das schon machen werde, mit dem was sie mir gegeben haben. Ich möchte in meinem Alter nun dieses Vertrauen für die jüngeren Menschen auch noch finden und sie nicht immer kritisieren. Für den Verein ist mein Wunsch, dass wir noch stärker an dem Menschenbild arbeiten und uns mehr mit der Selbsterziehung beschäftigen. Denn dieser Besuchsdienst ist wahnsinnig schwer für mich. Denn das ist keine aktive Tätigkeit, sondern es geht viel um zurückhalten, aushalten und da sein.

Christian: Ich wünsche mir für den Verein, dass dieser nicht funktional wird. Natürlich muss das alles organisiert werden, aber das Funktionale sollte nicht überdimensional werden. Denn es geht um diesen Wärmeprozess, der den Organismus zusammenhält. Den jungen Menschen, denen ich begegnet bin, möchte ich das klare Denken als Grundlage für das Gespräch empfehlen. Ich wünsche mir, dass ihre Tatkraft nicht erlahmt, sondern dass sie ihren Impulsen folgen, höher streben und nicht untergehen. Ich fand es immer sehr schlimm, wenn sich junge Menschen mit mächtigen Ideen in der Materialität des Daseins verloren haben. Den Mut dranzubleiben kann man aufbauen, in dem man meditativ und intuitiv arbeitet.


Reinhold: Ich denke, dass Freundschaften sehr wichtig sind. Wenn wir hier zusammen sind, ich empfinde euch als Freunde, dann bin ich motiviert, etwas für den Verein zu tun. Ohne euch würde ich die Lust verlieren, weiterzuarbeiten.


Ute: Worüber identifiziere ich mich? Das finde ich sehr wichtig, dass mehr Menschen hier eine Klarheit und ein Bewusstsein für sich selbst bekommen und das Gut der sozialen Kompetenz wertschätzen.


Birgit: Der anthroposophische Pflegedienst ist immer noch mein Ziel. Mittlerweile sind wir als Verein so weit zu sagen, dass wir uns vielleicht mit anderen Partner*innen zusammentun.

Christian: Eine Hürde, die es für uns als Verein auch zu nehmen gilt, ist das große Nachwuchsproblem. Es ist schwierig, junge Menschen zu finden, die sich mit der Idee des Vereins identifizieren können. Und gleichzeitig bereit sind, aktiv in der Vorstandsarbeit tätig zu werden, um den Verein zukünftig mitzugestalten.


Vielen Dank für das Gespräch.


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Zu den Personen:


Birgit Kirch war als Waldorflehrerin in Saarbrücken tätig, ist Oma und die Frau von Reinhold. In der Vereinsarbeit ist sie mit vielen organisatorischen Aufgaben betraut, wie zum Beispiel den Infobrief an die Welt zu verschicken.


Reinhold Kirch möchte am liebsten „Buddy“ genannt werden und geht ganz in seiner Rolle als Opa auf. Er ist mit Birgit verheiratet und war früher als Soziologe, Schreiner und Sozialarbeiter tätig. Als Student ist er Christian schon an der Uni begegnet.


Christian Schwartz ist ebenfalls Opa und betreibt zusammen mit seiner Frau eine Buchhandlung in Bexbach. Er ist Redaktionsmitglied von Keime für die Zukunft und engagiert sich darüber hinaus vielfältig.


Ute Seibert lebt in Neunkirchen Saar, hat eine Pflegeausbildung sowie eine im kaufmännischen Bereich. Sie ist wesentliche Stütze des Vereins anders alt werden und Mitglied von proWAL, einem Zukunftsprojekt in Walhausen.


Georg Siryj`s familiäre Wurzeln liegen in der Ukraine und in Russland. Er hat lange Zeit in der Schweiz gelebt. Er ist als Heileurythmist tätig und sagt, dass er im Waldorf- und Christengemeinschaftszusammenhang viele Menschen in Saarbrücken kennt.


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* Rudolf Steiner beschreibt den Begriff der werktätigen Liebe als hingebungsvoll für andere tätig zu sein. Siehe Rudolf Steiner zu Furcht und Heilkraft, Rudolf Steiner in Basel am 5.Mai 1914, GA 154:

„Unsäglich reicher für die Menschheitszukunft könnte man wirken, wenn man den Menschen Vorstellungen überlieferte, durch die sie vom Materialismus weggebracht werden und zu werktätiger Liebe vom Geiste aus angespornt werden könnten. Man wird sich daran gewöhnen müssen, dass dasjenige, was man direkt als Heilkraft der Geisteswissenschaft zu betrachten hat, wirken muss durch die menschliche Gemeinschaft.“

  • 26. Dez. 2020
  • 4 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 12. Jan. 2021

Es gibt Schauspielkünste, die finden nicht auf Bühnen vor Menschen statt, die Eintritt bezahlt haben. In welche Bereiche Einschränkungen der Kulturszene hineinreichen, wird im folgenden Beitrag deutlich. Fotos: Lilli Breininger, Text: Axel Stirn


Florentine ist als Schauspielerin gescheitert. Sie kann sich die Texte nicht merken. Macht aber nichts. Nicht mehr alles im Hirn, nicht mehr alles auf Zugriff. Das kennen Demente auch. Singen kann Florentine dafür sehr gut. Und mit den Alten klappt das auch ausgezeichnet. Die wissen zwar oft nicht, was gestern war, aber Liedtexte und Gedichte können sie noch auswendig.


Florentine ist eine Clownsfigur. Wenn Heike Laub die rote Nase aufsetzt verwandelt sie sich in Florentine Dibbelabbes, eine närrische junge Frau, heimatlos auf einem Schiff aufgewachsen, das Leben mit allen Sinnen liebend. Sobald sie erscheint, hat sie den Impuls, mit den Mitmenschen in Kontakt zu treten, den Nachbarn zu umarmen, einfach so, vielleicht weil jemand so gut riecht. Aber Corona verlangt nun eine andere Spielweise.

Florentine rede eher wenig und mache lieber Musik, beschreibt Heike sie. „Sie ist eine Person des Hier & Jetzt“, erklärt die Künstlerin. Die Figur der Clownin erfand sie gezielt für die Alten in den Heimen, um in guten Kontakt mit ihnen zu treten. „Oft können die nicht lang konzentriert zuhören. Aber Musik und Florentines Spielfreude verbinden direkt.“


„Die Alten mögen vor allem Lieder zum Mitsingen.“ Sie habe auch schon mal ein Stück von den Beatles gespielt. „Ach“, sei die Reaktion darauf gewesen. „bitte nichts so modernes.“ Seither gäbe es nur noch Zeitloses. Zwischen Klassik, gefühlvollen Chansons, tanzbaren Volksliedern und internationalen Oldies bringt Heikes Florentine die Zuschauer vor allem mit kurzen, improvisierten Szenchen zum Lachen.

„Ich habe meinen Zuschauern auch schon Blumen mitgebracht. Oder etwas andres Wohlriechendes. Oder etwas zum Anfassen. Einmal wünschte sich eine alte Dame den Geruch von Schusterkleber. Sie arbeitete früher in einer Tankstelle. Den habe ich ihr daraufhin besorgt. Es war toll.“



Einmal hatte Florentine das Bedürfnis, sich ein bisschen auszuruhen und es war gerade noch Platz bei einem freundlichen alten Herrn. Es wurde im Liegen gemeinsam Gitarre gespielt und gesungen. „Der Clown ist Vermittler einer anderen Welt.“ sagt Heike. „Er ist sinnlicher, hingebungsvoller als unsere heutigen Normalen. Und vor allem direkt und ehrlich.“

Florentine erzählt münchhausenartige Episoden aus ihrem Leben mit ihren drei Kindern Tom, Marten und Mark, (zusammen Tomatenmark), malt mit wenigen Worten klare Bilder in die Gedankenwelten und spielt mit allem, was die Situation her gibt.


Ihre Schöpferin Heike absolvierte eine Schauspielausbildung, und obwohl sie sich die Texte merken konnte, wechselte sie nach einem Engagement im Theater Überzwerg in die Clownerie. „Der Clown ist der Narr. Er darf alles. Ihm verzeiht man alles.“


Der erste Lockdown bedeutete das plötzliche Ende aller Auftritte. Glücklicherweise hat ihr Mann einen funktionierenden Handwerksbetrieb. Aber ihre Arbeit war erstmal gelöscht.




„Ich lerne auch immer wieder selbst von Florentine. Gerade jetzt bei Corona. Immer wieder erwische ich mich, wie ich anfangen will zu jammern und zu klagen. Dann erinnere ich mich an Florentine. Was würde sie machen? Jammern und klagen? Niemals! Sie ergreift die Situation, wie sie ist, und macht das beste draus. Im Leben lässt sie sich nicht unterkriegen.“


Florentines erste Lockdown-Gedanken galten direkt den alten Menschen, die sie teilweise regelmäßig alle zwei Wochen besucht hatte. Irgendwie musste sie mit den Menschen weiterhin in Kontakt bleiben. Also malte sie Briefe und schilderte in Bildergeschichten, warum sie derzeit nicht zu Besuch kommen könne: Sie hatte bei der verfluchten Hausarbeit ihren Teppich verhext, und war auf diesem versehentlich davongeflogen in unbekannte Gefilde.



Und dann konnte Heike den Lockdown richtig genießen. Sie hatte nach jahrelangem Aufschub endlich mal Zeit, Ordnung in ihre Aufzeichnungen zu bringen. Sie überarbeitete ihre Programme und erstellte Coronakonforme Varianten. Das, was die Alten so liebten, Florentines direkte und körperliche Art, ihre spontanen Küsschen und Umarmungen sind seit der Lockerung nach dem ersten Lockdown allerdings verboten. Ihre Lösung: Florentine war beim Arzt. Der diagnostizierte eine militante Knoblauchfahne. Florentine erklärt: „Mir ist ausdrücklich verboten, zu Nahe an Menschen zu kommen. Ich soll eine Knoblauchfahne Abstand halten. Es soll ja keiner umkippen.“ Heikes Repertoire für Florentine umfasst nun frisch renovierte Clownprogramme für Kinder und ihre lieben Alten. Mit Knoblauchfahne.



„Das Schöne am Clown ist, er darf alles auf die Spitze treiben. Auch die Wahrheit.“ Ist es das, was dich dazu bewegt hat, von der Schauspielerei zur Clownerie zu wechseln? frage ich sie. „Als Schauspieler schreibt man seine Texte nicht selber, jemand anders inszeniert. Als Clown ist man Autor und Spieler in einer Person. Außerdem kann ich sehr viel improvisieren. Dabei entstehen immer schöne Momente, bei denen man sich gegenseitig ergänzt, Melodien genießt, eine schöne Zeit zusammen hat.“



„Und Clowns scheitern“, ergänzt Heike. Das sei der Ausgangspunkt für neues Handeln. Aber, frage ich in die Stille, was geschieht mit der Welt, wenn der Clown nicht mehr arbeiten darf?


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Heike Laub ist professionelle Schauspielerin und Clownin. Sie tritt unter anderem seit Jahren in Altenheimen, Kitas und Kindergärten auf. www.musikclownerie.de


Die Fotografin Lilli Breininger studierte Fotojournalismus in Hannover. Sie erzählt gerne Geschichten mit ihren Fotos, zurzeit die von KünstlerInnen "in Corona". www.lillibreininger.de

  • 26. Aug. 2020
  • 16 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 12. Apr. 2021

Die Klimakrise als Zeichen für die Erkaltung der Seelen der Menschen, die Not in der sich die Menschheit derzeit befindet, die Frage nach dem wie es in Zukunft weiter geht - stärker denn je ist ein äußerer Druck spürbar, der die Menschen in ihrer Ich-Kraft herausfordert. Es geht jetzt um eine dramatische Entscheidung zwischen Freiheit und Unfreiheit, so Johannes Stüttgen (JS) im Gespräch mit Antonia Witt (AW). Das Interview wurde am 30. Juli 2020 in Düsseldorf geführt.


Tafelzeichnung von Johannes Stüttgen, Zeitstau, 02.06.2017, Rudolf-Steiner-Schule München-Schwabing


AW: In der Menschheitsgeschichte rückblickend ist der Wunsch oder der Drang nach Freiheit ein roter Faden. Meine Frage ist, an welcher Stufe der Evolution der Freiheit die Menschen jetzt stehen.


JS: Die Entwicklung der Freiheit befindet sich gerade an einem sehr wichtigen Punkt. Man kann schon fast sagen an einem Wendepunkt, an einem ganz kritischen Höhepunkt, der aber auch gleichzeitig ein Tiefpunkt ist. Höhe- und Tiefpunkt fallen hier zusammen, deswegen auch „kritischer Punkt“. Es geht um eine dramatische Entscheidung, eine Unterscheidung zwischen Freiheit und Unfreiheit, weil der Punkt, den wir jetzt an Freiheit erreicht haben, wird, wenn er jetzt nicht auf die nächste Stufe gebracht wird, zu Unfreiheit. Das heißt, wir leben in einem Stadium noch nie dagewesener Unfreiheit, und zwar deswegen, weil wir noch nie so sehr in der Freiheit gelebt haben. Das klingt jetzt wie ein Widerspruch und ist auch so gemeint. Es ist eine richtige Paradoxie.


AW: Können Sie das bitte verdeutlichen?


JS: Ein gutes Beispiel ist der Zusammenbruch des Ostblocks von 1989. Es war eine Konfrontation zweier Systeme. Der Westen berief sich auf die Freiheit mit dem Kapitalismus und der Osten auf den Sozialismus. Als der Osten zusammenbrach verschwand sein System, und man kann sagen, dass die Freiheit gesiegt hat. Damit meinte man, den Sieg errungen zu haben, die Freiheit hätte sich jetzt durchgesetzt. Aber wir merken immer deutlicher, dass diese Form der Freiheit, die sich da durchgesetzt hat, noch lange nicht die endgültige Freiheit ist, sondern auf der Stufe der Entwicklung der Freiheit ein ganz bestimmter Punkt. Dieser Punkt ist eine äußerste Individualisierung, also das Gegenteil von Sozialismus, nämlich Egoismus.


Der Kapitalismus ist eigentlich nichts anderes als ein globaler Egoismus. Im Osten, der sich auf Marx berufen hat, wurde alles Individuelle weggestrichen und dabei immer von dem Ganzen gesprochen. Das Ganze wurde gleichgestellt mit Staat, mit Zentralismus. Insofern ist der Zentralismus im Osten untergegangen. Im Westen haben wir es mit Pluralismus zu tun. Aber an diesem Punkt wird die Sache ungeheuer kritisch.


Denn bei dieser Freiheit, die man jetzt erreicht hat, hat man nichts Ganzes mehr. Es ist, als würde man immer mehr den Boden unter den Füßen verlieren und weiß eigentlich nicht, was das Ganze ist. Es gibt unheimlich viele Egoisten und die müssen miteinander kooperieren oder koordiniert werden. Auch haben wir den Staat, aber die Begriffe sind hier einfach unscharf.


Das beste Beispiel ist der Begriff der Demokratie, ein sehr unscharfer Begriff, obwohl er abgeleitet werden kann von der Freiheit. Man kann sagen, dass aus der Hierarchie, welche aus einer vertikalen Ordnung der Fürstenzusammenhänge entstand, die Demokratie das nach unten gezogene auf die Horizontale verbreitete Rechtswesen ist. Jetzt stehen wir an dem kritischen Punkt, wo wir feststellen, dass uns die Vertikale fehlt. Wir haben die Horizontale erreicht, die Gleichberechtigung, so ähnlich wie der Meeresspiegel, aber jetzt wissen wir nicht, was mit der Vertikalen ist, weil die Vertikale noch nicht befreit ist. Das heißt, in Bezug auf die Vertikale herrscht eine völlige Unklarheit.


Manchmal heißt es, die Vertikale sei der Staat oder das Parlament, bei dem die Menschen Vertreter wählen. Dann hat man so eine Art Systemvertikale, aber die steht ständig in Konflikt mit der Idee der Demokratie, weil sie sich in Personenwahlen erschöpft. In diesem System werden bestimmte Personen zu Vertretern gewählt, aber wir stellen fest, dass sie alle überfordert sind. Sie sind nicht in der Lage, die vertikale Funktion zu erfüllen, die man verloren hat, nachdem die Hierarchien der Fürstenherrschaft abgebaut wurde. In diesem Gedankenzusammenhang müssen wir uns jetzt bewegen, um Ihre Frage zu beantworten. Können Sie mir folgen?


AW: Ja, ich kann Ihnen gut folgen.


JS: Wir halten also fest, das was fehlt, ist die Vertikale, beziehungsweise sie fehlt nicht, sondern wird ersetzt durch eine äußere Struktur, durch ein System. Der Mensch ist heute aber an einem Punkt, an dem er mit dem System entweder nicht mehr fertig wird, weil es eine Außenbestimmung ist, oder aber, mit dem sich der Mensch zu sehr arrangiert und anpasst. Beide Zustände sind schlecht. In beiden Zuständen ist man nicht mehr frei. Man gerät in eine Zwanghaftigkeit am System oder in eine Zwanghaftigkeit dadurch, dass man das Gefühl hat, das System dirigiere einen von außen. Diesen Widerspruch müssen wir erst einmal erkennen und durchschauen.


AW: Zu dem Widerspruch: Eine Sache, die ich zurzeit sehr deutlich merke, ist ein Widerspruch zwischen Vergangenheit und Zukunft. Alte Gedanken- und Verhaltensstrukturen…


JS: …die nützen uns nichts mehr, die stehen uns sogar im Weg. Das ist der Witz dabei. Auf der einen Seite orientieren wir uns an den alten Inhalten. Aber da wir uns an ihnen orientieren, stehen sie uns im Weg. Das liegt daran, dass wir sie nicht selbst erarbeitet haben. Wir haben sie nicht selbst erzeugt. Die alten Verständnisse sind uns überliefert worden, durch Traditionen. Das nennt man dann Glauben. Aber glauben hat nichts mit Denken zu tun. Das ist der Widerspruch von Vergangenheit und Zukunft. Wir sind jetzt mitten in der Gegenwart, wo diese beiden Elemente aufeinanderstoßen und sich gegenseitig widersprechen.


Antonia schlägt in dem Buch „Die Freiheitsstatue und die „Soziale Plastik – zwei Begriffe von Freiheit, zwei Begriffe von Kunst, zwei Begriffe von Zukunft – drei Gespräche mit Johannes Stüttgen von Katharina von Bechtholsheim“ (Flensburger Hefte) die Seite 26 auf und zeigt sie Johannes. Dort ist ein nachgezeichnetes Tafelbild von Johannes Stüttgen von einem Vortrag aus Bern, 2005, als Foto abgedruckt.


AW: Hier in diesem Buch gibt es eine Zeichnung von Ihnen. Die finde ich dazu sehr passend.


JS: Genau, damit wollte ich das zum Ausdruck bringen. Die Zeichnung zeigt den Menschen in einer Situation, wo er durch eine Klappe will, die sich nur zu ihm öffnen lässt. Dadurch aber, dass er nach vorne will, verhindert er das Öffnen dieser Klappe, hindert die Inspiration als die Engelerscheinung aus der Zukunft daran, zu ihm reinzukommen. Das ist dieser Widerspruch. Im Grunde genommen ist das nicht nur tragisch, sondern auch komisch.


AW: Es ist vor allem ein großer Kampf, immer dagegen zu sein.


JS: Total. Eigentlich müsste der Mensch, anstatt mit dem Kopf nach vorne zu drücken, nur ein wenig zurücktreten und schon wäre die Tür offen. Dieses innerlich zurücktreten… Es ist auch der Unterschied zwischen Innen und Außen, den wir hier gerade besprechen, denn der Kapitalismus bezieht sich auf materielle, körperliche, letztlich sinnlich wahrnehmbare Zusammenhänge. Das Gegenstück dazu sind die inneren Zusammenhänge, die eben nicht physisch, sondern geistig sind. Wir haben aber vom Geist eine sehr abstrakte Vorstellung, während wir von physischen Zusammenhängen sehr konkrete Vorstellungen haben. Sobald man vom Geist spricht, wird die Sache blass oder abstrakt. In dieser Schwierigkeit stecken wir drin. Wir tun uns sehr schwer damit, eine Art Wechsel vorzunehmen von der sinnlichen Außenwelt zu einer lebendigen Innenwelt, die genauso anschaulich ist wie die Außenwelt, nur, dass sie nicht materiell ist. Es müsste so sein, dass die beiden Dinge, wie Natur und Geist, wieder zusammenkommen.


Das ist auch der Punkt, warum wir von der Klimakatastrophe sprechen. Denn die Klimakatastrophe ist nur ein Beweis dafür, dass dieses alte Arrangement Subjekt – Objekt, also Ich und Außenwelt, beziehungsweise die Natur, nicht mehr weiter so funktioniert, weil die Natur nicht mehr mitspielt. Die Natur sagt: „Bis hier und nicht weiter. Du willst jetzt hier deinen Willen durchsetzen, Mensch, und ich habe auch eine Zeit mitgespielt, habe dir alles geliefert, was du wolltest und brauchtest, aber jetzt nicht mehr. Das heißt, wenn deine Seele weiterhin kalt bleibt, dann werde ich umso wärmer.“


Zu Ihrer Frage noch einmal: An welchem Punkt stehen wir in der Freiheit? Genau an diesem Punkt, wo diese Umkehrung kein Zurück in die Vergangenheit ist, sondern eine Umkehrung von außen nach innen bedeutet. Es ist nötig, dass man einen inneren Begriff entwickelt für das, was sich außen abspielt, dass man von dieser bloßen Außenorientierung eine Innenorientierung entwickelt, die man Denken nennt. Das ist jetzt aber nicht abstraktes Denken, also abgezogenes Denken, sondern lebendiges Denken. Das Leben, was man sonst immer in der Natur hat, muss man in sich selbst auffinden, denn die Natur möchte ganz gerne als lebendig angesprochen werden. Als Geist. Oder?


AW: Ja.


JS: Das zeigt doch im Grunde, dass die Sache gar nicht schwierig ist. Jedenfalls zunächst nicht. Die Schwierigkeit beginnt da, wo die Sache umgesetzt werden muss. Weil die Menschen oft zu faul sind, das umzusetzen, lassen sie sich auf diese einfache Überlegung nicht ein. Viele haben Schiss davor. Denn sie wissen ganz genau, dass diese Überlegungen, die wir angestellt haben, unheimliche Konsequenzen hätten. Ich müsste meine ganze Lebenseinstellung, möglicherweise meine ganzen Lebenszusammenhänge verändern. Die Veränderung passiert im Übrigen auch, nur wird sie einem aufgezwungen. Diese Veränderung ist dann keine freie Veränderung, sondern eine aufgezwungene. Sie ist aber die Folge von Freiheit. Denn die Umweltschäden, auch die Klimakatastrophen, sind nicht durch Elefanten entstanden.


AW: Vielleicht doch durch „Elefanten“, der Mensch kann schließlich auch ein Trampeltier sein.


JS: Natürlich. Das Virus, das wir im Moment haben, ist meiner Meinung nach ein ausgesprochener Türöffner. Dahinter steht die Todesbedrohung und die Menschen meinen, wieder wie in alter Form, sie könnten um den Tod herumkommen. Wenn ich mich mit dem Tod nicht auseinandersetze, wenn ich ihn nicht nach Innen bringe und ihn in mir lebendig mache, komme ich um den Tod im Außen nicht herum. Ich muss erst einmal einen Innentod vollziehen. Der Innentod ist ganz wichtig, damit nicht nachher die Seele stirbt. Denn das ist die große Bedrohung. Letztlich ist es viel schlimmer, wenn die Seele stirbt, als wenn der Körper stirbt. Wenn die Seele tot ist, hast du gar nichts mehr. Dieser Gesichtspunkt wird einfach ständig verdrängt, und zwar deswegen, weil man Angst davor hat.


AW: Hat Sie die Corona-Krise überrascht? Für viele Leute war es ein Schock.


JS: Ein Schock war es für mich nicht. Ich habe immer damit gerechnet, dass irgendetwas passiert, was uns diesem Punkt näherbringt, von dem ich gesprochen habe. Ich bedaure, dass dieser Punkt mal wieder von außen kommt, in Form eines Virus. Mir wäre es lieber gewesen, der Punkt wäre von innen gekommen, also im Denken. Da er bei mir im Denken schon da war, war ich nicht sehr überrascht. Geschockt war ich nicht. Eher im Gegenteil. Ich dachte, das ist eine Möglichkeit, wo manch einer zu sich selbst kommt.


Quarantäne finde ich zum Beispiel eine absolute Notwendigkeit. Die müsste aber meines Erachtens nicht in der Form stattfinden, wie sie nun stattfindet: Mit dieser ganzen Hilflosigkeit und Erbärmlichkeit und den großen Nachteilen für bestimmte Bevölkerungsschichten, zum Beispiel für ältere oder kranke Menschen. Das müsste gar nicht sein.


Denn was heißt Quarantäne? Quarantäne bedeutet nichts anderes, als dass ich mich auf mich besinne. Alle äußeren Einflüsse oder Traditionen einmal abschneiden und aus der normalen Gewohnheit ausbrechen, um zu überprüfen, ob die selbstverständliche Gewohnheit überhaupt noch stimmt.


AW: Ist für Sie der nächste Schritt die Verinnerlichung? Auf der einen Seite gibt es viele Leute, die durch Corona wachgeworden sind. Auf der anderen Seite gibt es Menschen, die jetzt in Urlaub fahren.


JS: Genau. Und die Leute, die wachgeworden sind, die müssen jetzt aufpassen, dass sie nicht wieder einschlafen.


AW: Dann ist jetzt die Frage, was jeder Einzelne tun kann.


JS: Jeder Einzelne kann das tun, was wir hier auch tun. Das heißt, wir können anfangen, über diesen Zustand entsprechend nachzudenken, gemeinsam in eine Kommunikation treten, um herauszufinden, wie der andere Mensch das gedacht hat und wie ich selbst das gedacht habe. Wir können beginnen, uns gegenseitig die Karten auf den Tisch zu legen. Vermutlich wird davon jeder profitieren. Das wäre ein erster Schritt. Der findet im Übrigen auch statt. Nicht überall, aber ich bin fest davon überzeugt, dass sehr viel mehr Menschen durch dieses Ereignis plötzlich in eine strengere, genauere Beobachtung hineinkommen. Wenn man es bei sich selbst regelt, kann man davon ausgehen, dass andere das auch merken (lacht). Die Sache ist einfach komisch. Es ist eine Komödie.


AW: Weil Sie es eine Komödie nennen... Kann man sagen, dass jeder seine Rolle zu spielen hat? Da wo er ist?


JS: Jetzt sind wir beim Thema Theater. Wunderbar! Das heißt, jetzt haben wir den Kunstbegriff bereits erweitert und sind von dem alten Begriff Theater in die Wirklichkeit gegangen, haben aber den alten Begriff weiter benutzt, was sehr schön ist, weil damit klar wird, dass die Wirklichkeit auch ein Theater ist. In dem Moment, wo man merkt, dass man eine Rolle spielt, hat man die Möglichkeit zu überprüfen, ob man sich etwas vormacht, oder herauszufinden, wie die Rolle aussieht, wenn ich mir nichts vormache. Dann ist der Begriff der Rolle der Begriff der Aufgabe. Ich bin dann an dem Punkt, wo ich sage: Wenn ich schon eine Rolle spiele, und ich die Rolle bin, dann schauen wir doch mal, ob die überzeugend ist. Oder kann ich mir selbst nicht in die Augen schauen, wenn ich so lahmarschig, so träge, so geil oder sonst was bin. Ich muss mich fragen: Finde ich das richtig? Und die Natur ist jetzt Mitspieler in dem Theaterstück. Früher waren das die Götter. Indirekt haben wir die jetzt wieder mit dabei, jedenfalls zumindest als Ahnung, als Idee.


AW: Zu den Begriffen: Sie sagen immer, die seien noch gar nicht richtig verstanden, die müssten wir erst richtig begreifen.


JS: Genau. Manchmal spreche ich auch von Idee. Aber Begriff ist nüchterner, toter. Deswegen bevorzuge ich Begriff, weil ich am Tod unmittelbar vor einem Zustand bin, den ich auferwecken muss. Solange ich noch im Lebendigen bin, habe ich das nicht nötig. Dann fahre ich nach Mallorca, dann freue ich mich auf den Urlaub. Das ist auch alles sehr schön. Nur ist es auch ein Zeichen dafür, dass ich in meinem Inneren die Sachen noch nicht wirklich erledigt habe, sondern, dass ich noch angewiesen bin auf irgendeine Vergnügung, die dann am Ende des Urlaubs meistens auch beschissen war.


AW: Um Rousseau zu zitieren: „Der Mensch ist frei geboren, und liegt doch überall in Ketten.“


JS: Frei geboren bedeutet, er wird mit einem Auftrag geboren. Er muss sich befreien. Frei geboren bedeutet, es beginnt mit einer Freiheit, und diese Freiheit ist der Auftrag, dich zu befreien. Am Anfang, bei der Geburt, findet die Freiheit statt, und beim Tod. Diesen Bogen von Geburt zu Tod, den muss man mit dem Freiheitsbegriff verbinden. Sonst kommt man zu keinem vernünftigen Kunstbegriff. Man kommt sonst nicht zu etwas Vernünftigem.


AW: Was mir gerade einfällt, das ist der Schmerz.


JS: Wenn ich so mache (JS kneift sich selbst in den Arm), muss man fragen, wer spürt den Schmerz (beide lachen). Ich spüre den Schmerz. Also habe ich ein Verhältnis zu meinem Körper, der sich aber nicht nur über Schmerz vermittelt. Es gibt auch andere Formen, wie Sexualität oder Freude und so weiter. Wenn ich Kontakt zum Körper habe, besteht da eine Verbindung zwischen innen und außen. Ich merke, mein Körper ist mir gegenüber auch außen. Aber es ist ein Außen, über das ich unmittelbar etwas in Bewegung bringen kann. Das heißt: Ich habe über die eigene Existenz hinaus hier auf Erden als Ich-Wesen im Körper die Möglichkeit, innen und außen unmittelbar, jedenfalls teilweise zu bestimmen. Die Selbst- und die Fremdbestimmung sind in dieser Konstellation plötzlich in einem. Das ist das neue Entdeckungsfeld.


Denn dann kommt etwas Interessantes zustande. Wir beide, die wir über unsere Körper verfügen, haben auch gemeinsame Organe, zum Beispiel die Sonne oder die Bäume. Sie sind plötzlich Organe, aber nicht meine und nicht deine. Es sind unser aller Organe. Da merkt man plötzlich, wie dieser Sprung von innen nach außen, jetzt körperlich definiert, auf einen höheren Geist kommt. Man unterscheidet dann die eigenen Organe und damit auch den Unterschied zwischen Ich und Du als körperlich voneinander unterschieden. Keiner kann zur gleichen Zeit da sitzen, wo der andere sitzt, zum Beispiel körperlich auf diesem Stuhl. Gleichzeitig hat man aber auch die Möglichkeit, die Außenwelt, die sogenannte Umwelt, zu erleben als eigentlich gar nichts anderes als die eigenen Organe. Nur mit dem Unterschied, dass sie nicht nur meine, sondern auch deine sind. An diesem Punkt haben wir dann den Egoismus im Empfinden überwunden zu einem höheren Gemeinsamen. Das ist aber dann nicht einfach Sozialismus, sondern etwas Geistiges, Spirituelles. Das ist etwas sehr Einfaches, was jeder Mensch nachvollziehen kann.


AW: Eine andere Sache: Was mir vorher bei Beuys gar nicht klar war, dass er so gut mit Sprache umgehen konnte. Er war ein wirklicher Sprachkünstler. Es gibt eine Rede von ihm, wo er gesagt hat, dass die deutsche Sprache großes Potential hat, die Begriffe auf den Begriff zu bekommen.


JS: Ja, so ist es. Die Sprache hat Beuys in dieser Rede einen Born genannt. Das bedeutet Quelle oder Schatz. Manches ist in der Sprache bereits auf eine wunderbare Art und Weise beantwortet, bevor es überhaupt begriffen wird. Wenn wir miteinander sprechen, bedienen wir uns eines Mediums, das viele Menschen verbindet. Die Sprache ist ein ungeheurer Schatz und so gesehen kommen einem die verschiedenen Sprachen plötzlich geheimnisvoll vor. Es gibt Menschen, die sehr sprachbegabt sind. Und es gibt Menschen, die sind das nicht, die können aber ihre eigene Sprache entsprechend vertiefen. Daraus entsteht irgendwann einmal die Sprache der Liebe, also die Sprache der Zusammengehörigkeit auf einer höheren Ebene.


AW: Kennst du das Gedicht von Schiller, das den Titel „Die Künstler“ trägt?


JS: Ja, das kommt mir bekannt vor.


AW: Diese Idee, dass jeder Mensch ein Künstler ist, ist gar nicht neu.


JS: Die ist so neu wie die Menschheit.


(Beide lachen)


AW: Aber wieso haben wir das dann bisher noch nicht kapiert?


JS: Das ist ein gutes Zeichen dafür, dass manche Saaten Zeit brauchen, bis sie aufgehen.


AW: Das Ich und den Ich-Begriff habe ich erst im Zuge von Corona kennengelernt. Den Begriff kannte ich vorher nicht. Ist Ihnen der schon lange bewusst?


JS: Die Ich-haftigkeit ist mir sehr präsent. Ich sage mal so: Wenn man mich fragen würde, was Geist ist, dann würde ich antworten: Ich kenne zwei Formen von Geist. Einmal Ich und zweitens Begriff. Diese zwei Formen von Geist sind mir bekannt. Und mit diesen zwei Formen kann ich arbeiten und weiß deswegen, dass die Natur auch über ein Ich verfügt. Nur kenne ich es noch nicht. Wenn ich es kennenlernen wollte, müsste ich es auch in mir selbst finden. Was sich andeutet, ist eine völlig neue Grundhaltung, die wir meines Erachtens dringend benötigen. Sonst geraten wir in eine Not, die uns zerstört.


(Es entsteht eine kurze Pause)


AW: Jeder Mensch hat schließlich eine eigene Aufgabe. Aber es gibt auch eine Gesamtaufgabe.


JS: Richtig. Wenn ein Künstler einen Auftrag hat, dann steht er vor der Frage, worin besteht mein Auftrag? Es ist ein Auftrag zur Gestaltung, möglicherweise auch zur Umgestaltung. Ein Auftrag bezieht sich immer auf die Notwendigkeit einer neuen Form. Entweder, dass ich die Form ganz neu hervorbringe, oder dass ich alte Formen ersetze durch andere Formen. Den Ursprung des Formauftrags muss der Künstler aber in sich selbst finden, und im Außen. Das heißt, wenn ich zum Beispiel feststelle, dass die Bäume zu meinem Auftrag gehören, muss ich fragen, welche Rolle spielen die Bäume. Sind sie Mitarbeiter oder sind sie einfach nur Gegenstände, die ich in irgendeiner Weise bearbeiten, fällen oder sonst was damit machen kann? Oder muss ich zu den Bäumen nicht noch zusätzlich zudem, was wir sowieso schon machen, ein ganz neues Verhältnis entwickeln? Die Gesamtaufgabe der Menschheit, oder der Erde, die kann nur erfüllt werden, indem ich vorher meine eigene Aufgabe in dieser Gesamtaufgabe entdecke. Dadurch lernst du plötzlich die anderen als Spezialisten schätzen in Sachen, in denen du dich nicht so genau auskennst wie sie. Damit haben wir den Begriff der Arbeitsteiligkeit in den Begriff der Liebe umgearbeitet, erst einmal im Denken. Die zweite Frage ist, wie wir das dann ins Fühlen bekommen. Die dritte Frage ist, wie wir es in den Willen bekommen.


AW: Es gibt bestimmte Zwänge von außen, zum Beispiel die Sache mit der Überwachung. Das, was Edward Snowden enthüllt hat, oder das mit dem geplanten Impfstoff im Zuge von Covid-19. Ich finde, vieles wird extremer.


JS: Die vermehrten Zwänge kommen dadurch zustande, weil die Freiheit noch nicht begriffen wurde, weil der Freiheitsbegriff noch nicht erlöst wurde. Ob die Zwänge nun vom Staat oder von der Gesellschaft kommen, ist natürlich etwas anderes, als wenn sie von der Natur kommen. Man muss den Menschen als Gesellschaftswesen unterscheiden vom Menschen als Freiheitswesen und vom Menschen als Naturwesen. Das sind die drei Gesichtspunkte. Die Zwänge kommen so lange von außen, wie sie noch nicht von innen kommen. Von innen sind es aber keine Zwänge, sondern Notwendigkeiten, die ich einsehe, also Freiheiten. Die Demokratie ist immer noch ein wunderbar anschauliches Beispiel, weil man es daran so klar machen kann. Aber Sie sprechen hier mehr den Computer und die Digitalisierungsfrage an.


AW: Es geht auch um die Demokratie, denn es gibt auch Gesellschaften, zum Beispiel in China, die sind weniger frei als wir.


JS: Wenn wir nicht aufpassen, landen wir da auch. Wir landen entweder im Chaos oder auch in der Diktatur. Vieles zeichnet sich in dieser Richtung ab. Aber dagegen ist nur ein Kraut gewachsen, nämlich das Kraut, was ich in mir selbst züchte, ziehe und pflanze. Es gibt keine andere Möglichkeit. Ich kann keinen anderen zu etwas zwingen.


AW: Andere Frage: Bist du zufrieden mit der momentanen Situation?


JS: Zufrieden bin ich wahrhaftig nicht, weil es hinten und vorne noch nicht stimmt. Wo ich hinschaue, sehe ich überall Dinge, mit denen ich nicht zufrieden sein kann. Das fängt bei mir selbst an, aber geht auch überall nach außen hin. Zufrieden bin ich nicht, aber auf der anderen Seite bin ich auch nicht in dem Sinne unzufrieden, dass ich dauernd ˈrummeckere oder ˈrumjammere.


AW: Mich würde noch interessieren, was du über den Tod denkst.


JS: Gut, dann reden wir über den Tod. Was heißt das jetzt über den Tod zu reden? Wir reden über einen Begriff, nämlich den Begriff Tod. Ihn als Vorstellung zu haben, ist schon ein weiterer Schritt, bei dem ich mich mit dem Begriff verbinde und ihn zu einer Erfahrungsfrage mache. Wie steht es mit dem Begriff? Haben wir ihn erfahren, den Begriff?


AW: Wie erfährt man einen Begriff?


JS: Eben das ist die Frage! Die Antwort lautet, man erfährt den Begriff. Ich kann den Tod am Todesbegriff erfahren, indem ich den Begriff als tot erlebe, als abstrakt. Wenn ich das tue, habe ich den Tod als Begriff in mein Denken geholt und weiß genau, dass das Denken nur über den Tod mitreden kann, wenn es selbst stirbt. In dem Moment, in dem das Denken stirbt, wenn ich nichts habe, in dem ich entweder untergehe in mein Unterbewusstsein, in mein Fühlen, in die Dunkelheit, wenn ich den Begriff Das Denken stirbt wirklich ganz klar vergegenwärtige, dann habe ich das Ich. Dann erlebe ich den Tod in mir selbst als einen Vorgang, den ich zumindest an dem Punkt beurteilen kann. Außerdem merke ich, dass das, was ich jetzt getan habe, überhaupt nichts mit Materie zu tun hat. Ich erlebe in mir einen materiefreien Zustand. Wenn ich das durchexerziere und immer wieder aufs Neue versuche, mich in diesen Zustand hineinzuversetzen, komme ich nach und nach immer mehr auf den Begriff des Todes und merke, dass der Begriff des Todes der erste lebendige Begriff ist.


AW: Der erste lebendige Begriff?


JS: Ja, also ich merke plötzlich, dass der Begriff Tod lebendig wird. Nicht nur, dass er mich bewegt, sondern ich bewege ihn, in dem ich ihn im Denken selbst beobachte und zu dem Ergebnis komme, dass das Denken selbst sterben muss. Ich muss den Zustand erreichen, wo ich mein Denken töte. Also, wo ich das Denken als Abstraktionsvorgang umklappe in etwas Lebendiges.


AW: Das ist super, da geht das Chaos aus dem Kopf.


JS: Richtig. Das heißt, ich habe jetzt den Tod als ein richtiges Instrument zur Schaffung von Wahrheit und Klarheit. Dann sind wir einen schönen Schritt weiter. Und damit verändert sich auch mein Verhältnis zum Tod.


(Einen Moment lang ist nur die tickende Wanduhr und der kläffende Hund des Nachbarn zu hören.)


AW: Um auf den Anfang zurückzukommen: Die Freiheitsfrage ist also immer entscheidend.


JS: Ich glaube schon. Die Freiheitsfrage ist die durchgehende Frage, die Schlüsselfrage, weil die Freiheitsfrage immer größer wird. Man kann das als Ich-Bewusstsein oder als Selbstbewusstsein beschreiben.


AW: Eine Frage noch zu Beuys: Vermisst du ihn, weil du mit ihm so eng gearbeitet hast?


JS: Ab und zu denke ich, dass es schön wäre, wenn er jetzt hier wäre und was würde er jetzt dazu sagen. Aber im Großen und Ganzen vermisse ich ihn nicht, weil er mir sehr präsent ist.

AW: Was denkst du, dass Beuys zu Corona sagen würde?


JS: Was er über Corona sagen würde, weiß ich nicht. Ich kann nur mich reden hören und gehe davon aus, dass er mir Recht geben würde, so wie ich ihn kenne. Ich meine, man muss doch wohl zugeben, dass Corona eine Wucht ist. Ich will mich in diese Diskussion aber nicht weiter einlassen. Das interessiert mich nicht. Mich interessiert vielmehr, was dieses Virus ausgelöst hat. Ich habe großen Respekt davor, weil es eine Todesbedrohung ist. Das hätte man sich vor einem halben Jahr gar nicht vorstellen können. Insofern ist Corona ein wichtiger Einschnitt, den ich auf meine Art und Weise beurteile. Ich denke, Beuys würde mir jetzt zustimmen, aber wir wissen es nicht.


(Beide lachen)


AW: Vielen Dank, Herr Stüttgen, für das Gespräch.


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Johannes Stüttgen lebt in Düsseldorf, ist Künstler, Autor sowie Gesellschafter und Mitbegründer des OMNIBUS für Direkte Demokratie. Er studierte an der Düsseldorfer Kunstakademie bei Joseph Beuys und wurde 1971 von diesem zum Meisterschüler ernannt. Stüttgen forscht und lehrt zum Erweiterten Kunstbegriff. Weitere Information finden Sie hier.

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