Die Klimakrise als Zeichen für die Erkaltung der Seelen der Menschen, die Not in der sich die Menschheit derzeit befindet, die Frage nach dem wie es in Zukunft weiter geht - stärker denn je ist ein äußerer Druck spürbar, der die Menschen in ihrer Ich-Kraft herausfordert. Es geht jetzt um eine dramatische Entscheidung zwischen Freiheit und Unfreiheit, so Johannes Stüttgen (JS) im Gespräch mit Antonia Witt (AW). Das Interview wurde am 30. Juli 2020 in Düsseldorf geführt.
Tafelzeichnung von Johannes Stüttgen, Zeitstau, 02.06.2017, Rudolf-Steiner-Schule München-Schwabing
AW: In der Menschheitsgeschichte rückblickend ist der Wunsch oder der Drang nach Freiheit ein roter Faden. Meine Frage ist, an welcher Stufe der Evolution der Freiheit die Menschen jetzt stehen.
JS: Die Entwicklung der Freiheit befindet sich gerade an einem sehr wichtigen Punkt. Man kann schon fast sagen an einem Wendepunkt, an einem ganz kritischen Höhepunkt, der aber auch gleichzeitig ein Tiefpunkt ist. Höhe- und Tiefpunkt fallen hier zusammen, deswegen auch „kritischer Punkt“. Es geht um eine dramatische Entscheidung, eine Unterscheidung zwischen Freiheit und Unfreiheit, weil der Punkt, den wir jetzt an Freiheit erreicht haben, wird, wenn er jetzt nicht auf die nächste Stufe gebracht wird, zu Unfreiheit. Das heißt, wir leben in einem Stadium noch nie dagewesener Unfreiheit, und zwar deswegen, weil wir noch nie so sehr in der Freiheit gelebt haben. Das klingt jetzt wie ein Widerspruch und ist auch so gemeint. Es ist eine richtige Paradoxie.
AW: Können Sie das bitte verdeutlichen?
JS: Ein gutes Beispiel ist der Zusammenbruch des Ostblocks von 1989. Es war eine Konfrontation zweier Systeme. Der Westen berief sich auf die Freiheit mit dem Kapitalismus und der Osten auf den Sozialismus. Als der Osten zusammenbrach verschwand sein System, und man kann sagen, dass die Freiheit gesiegt hat. Damit meinte man, den Sieg errungen zu haben, die Freiheit hätte sich jetzt durchgesetzt. Aber wir merken immer deutlicher, dass diese Form der Freiheit, die sich da durchgesetzt hat, noch lange nicht die endgültige Freiheit ist, sondern auf der Stufe der Entwicklung der Freiheit ein ganz bestimmter Punkt. Dieser Punkt ist eine äußerste Individualisierung, also das Gegenteil von Sozialismus, nämlich Egoismus.
Der Kapitalismus ist eigentlich nichts anderes als ein globaler Egoismus. Im Osten, der sich auf Marx berufen hat, wurde alles Individuelle weggestrichen und dabei immer von dem Ganzen gesprochen. Das Ganze wurde gleichgestellt mit Staat, mit Zentralismus. Insofern ist der Zentralismus im Osten untergegangen. Im Westen haben wir es mit Pluralismus zu tun. Aber an diesem Punkt wird die Sache ungeheuer kritisch.
Denn bei dieser Freiheit, die man jetzt erreicht hat, hat man nichts Ganzes mehr. Es ist, als würde man immer mehr den Boden unter den Füßen verlieren und weiß eigentlich nicht, was das Ganze ist. Es gibt unheimlich viele Egoisten und die müssen miteinander kooperieren oder koordiniert werden. Auch haben wir den Staat, aber die Begriffe sind hier einfach unscharf.
Das beste Beispiel ist der Begriff der Demokratie, ein sehr unscharfer Begriff, obwohl er abgeleitet werden kann von der Freiheit. Man kann sagen, dass aus der Hierarchie, welche aus einer vertikalen Ordnung der Fürstenzusammenhänge entstand, die Demokratie das nach unten gezogene auf die Horizontale verbreitete Rechtswesen ist. Jetzt stehen wir an dem kritischen Punkt, wo wir feststellen, dass uns die Vertikale fehlt. Wir haben die Horizontale erreicht, die Gleichberechtigung, so ähnlich wie der Meeresspiegel, aber jetzt wissen wir nicht, was mit der Vertikalen ist, weil die Vertikale noch nicht befreit ist. Das heißt, in Bezug auf die Vertikale herrscht eine völlige Unklarheit.
Manchmal heißt es, die Vertikale sei der Staat oder das Parlament, bei dem die Menschen Vertreter wählen. Dann hat man so eine Art Systemvertikale, aber die steht ständig in Konflikt mit der Idee der Demokratie, weil sie sich in Personenwahlen erschöpft. In diesem System werden bestimmte Personen zu Vertretern gewählt, aber wir stellen fest, dass sie alle überfordert sind. Sie sind nicht in der Lage, die vertikale Funktion zu erfüllen, die man verloren hat, nachdem die Hierarchien der Fürstenherrschaft abgebaut wurde. In diesem Gedankenzusammenhang müssen wir uns jetzt bewegen, um Ihre Frage zu beantworten. Können Sie mir folgen?
AW: Ja, ich kann Ihnen gut folgen.
JS: Wir halten also fest, das was fehlt, ist die Vertikale, beziehungsweise sie fehlt nicht, sondern wird ersetzt durch eine äußere Struktur, durch ein System. Der Mensch ist heute aber an einem Punkt, an dem er mit dem System entweder nicht mehr fertig wird, weil es eine Außenbestimmung ist, oder aber, mit dem sich der Mensch zu sehr arrangiert und anpasst. Beide Zustände sind schlecht. In beiden Zuständen ist man nicht mehr frei. Man gerät in eine Zwanghaftigkeit am System oder in eine Zwanghaftigkeit dadurch, dass man das Gefühl hat, das System dirigiere einen von außen. Diesen Widerspruch müssen wir erst einmal erkennen und durchschauen.
AW: Zu dem Widerspruch: Eine Sache, die ich zurzeit sehr deutlich merke, ist ein Widerspruch zwischen Vergangenheit und Zukunft. Alte Gedanken- und Verhaltensstrukturen…
JS: …die nützen uns nichts mehr, die stehen uns sogar im Weg. Das ist der Witz dabei. Auf der einen Seite orientieren wir uns an den alten Inhalten. Aber da wir uns an ihnen orientieren, stehen sie uns im Weg. Das liegt daran, dass wir sie nicht selbst erarbeitet haben. Wir haben sie nicht selbst erzeugt. Die alten Verständnisse sind uns überliefert worden, durch Traditionen. Das nennt man dann Glauben. Aber glauben hat nichts mit Denken zu tun. Das ist der Widerspruch von Vergangenheit und Zukunft. Wir sind jetzt mitten in der Gegenwart, wo diese beiden Elemente aufeinanderstoßen und sich gegenseitig widersprechen.
Antonia schlägt in dem Buch „Die Freiheitsstatue und die „Soziale Plastik – zwei Begriffe von Freiheit, zwei Begriffe von Kunst, zwei Begriffe von Zukunft – drei Gespräche mit Johannes Stüttgen von Katharina von Bechtholsheim“ (Flensburger Hefte) die Seite 26 auf und zeigt sie Johannes. Dort ist ein nachgezeichnetes Tafelbild von Johannes Stüttgen von einem Vortrag aus Bern, 2005, als Foto abgedruckt.
AW: Hier in diesem Buch gibt es eine Zeichnung von Ihnen. Die finde ich dazu sehr passend.
JS: Genau, damit wollte ich das zum Ausdruck bringen. Die Zeichnung zeigt den Menschen in einer Situation, wo er durch eine Klappe will, die sich nur zu ihm öffnen lässt. Dadurch aber, dass er nach vorne will, verhindert er das Öffnen dieser Klappe, hindert die Inspiration als die Engelerscheinung aus der Zukunft daran, zu ihm reinzukommen. Das ist dieser Widerspruch. Im Grunde genommen ist das nicht nur tragisch, sondern auch komisch.
AW: Es ist vor allem ein großer Kampf, immer dagegen zu sein.
JS: Total. Eigentlich müsste der Mensch, anstatt mit dem Kopf nach vorne zu drücken, nur ein wenig zurücktreten und schon wäre die Tür offen. Dieses innerlich zurücktreten… Es ist auch der Unterschied zwischen Innen und Außen, den wir hier gerade besprechen, denn der Kapitalismus bezieht sich auf materielle, körperliche, letztlich sinnlich wahrnehmbare Zusammenhänge. Das Gegenstück dazu sind die inneren Zusammenhänge, die eben nicht physisch, sondern geistig sind. Wir haben aber vom Geist eine sehr abstrakte Vorstellung, während wir von physischen Zusammenhängen sehr konkrete Vorstellungen haben. Sobald man vom Geist spricht, wird die Sache blass oder abstrakt. In dieser Schwierigkeit stecken wir drin. Wir tun uns sehr schwer damit, eine Art Wechsel vorzunehmen von der sinnlichen Außenwelt zu einer lebendigen Innenwelt, die genauso anschaulich ist wie die Außenwelt, nur, dass sie nicht materiell ist. Es müsste so sein, dass die beiden Dinge, wie Natur und Geist, wieder zusammenkommen.
Das ist auch der Punkt, warum wir von der Klimakatastrophe sprechen. Denn die Klimakatastrophe ist nur ein Beweis dafür, dass dieses alte Arrangement Subjekt – Objekt, also Ich und Außenwelt, beziehungsweise die Natur, nicht mehr weiter so funktioniert, weil die Natur nicht mehr mitspielt. Die Natur sagt: „Bis hier und nicht weiter. Du willst jetzt hier deinen Willen durchsetzen, Mensch, und ich habe auch eine Zeit mitgespielt, habe dir alles geliefert, was du wolltest und brauchtest, aber jetzt nicht mehr. Das heißt, wenn deine Seele weiterhin kalt bleibt, dann werde ich umso wärmer.“
Zu Ihrer Frage noch einmal: An welchem Punkt stehen wir in der Freiheit? Genau an diesem Punkt, wo diese Umkehrung kein Zurück in die Vergangenheit ist, sondern eine Umkehrung von außen nach innen bedeutet. Es ist nötig, dass man einen inneren Begriff entwickelt für das, was sich außen abspielt, dass man von dieser bloßen Außenorientierung eine Innenorientierung entwickelt, die man Denken nennt. Das ist jetzt aber nicht abstraktes Denken, also abgezogenes Denken, sondern lebendiges Denken. Das Leben, was man sonst immer in der Natur hat, muss man in sich selbst auffinden, denn die Natur möchte ganz gerne als lebendig angesprochen werden. Als Geist. Oder?
AW: Ja.
JS: Das zeigt doch im Grunde, dass die Sache gar nicht schwierig ist. Jedenfalls zunächst nicht. Die Schwierigkeit beginnt da, wo die Sache umgesetzt werden muss. Weil die Menschen oft zu faul sind, das umzusetzen, lassen sie sich auf diese einfache Überlegung nicht ein. Viele haben Schiss davor. Denn sie wissen ganz genau, dass diese Überlegungen, die wir angestellt haben, unheimliche Konsequenzen hätten. Ich müsste meine ganze Lebenseinstellung, möglicherweise meine ganzen Lebenszusammenhänge verändern. Die Veränderung passiert im Übrigen auch, nur wird sie einem aufgezwungen. Diese Veränderung ist dann keine freie Veränderung, sondern eine aufgezwungene. Sie ist aber die Folge von Freiheit. Denn die Umweltschäden, auch die Klimakatastrophen, sind nicht durch Elefanten entstanden.
AW: Vielleicht doch durch „Elefanten“, der Mensch kann schließlich auch ein Trampeltier sein.
JS: Natürlich. Das Virus, das wir im Moment haben, ist meiner Meinung nach ein ausgesprochener Türöffner. Dahinter steht die Todesbedrohung und die Menschen meinen, wieder wie in alter Form, sie könnten um den Tod herumkommen. Wenn ich mich mit dem Tod nicht auseinandersetze, wenn ich ihn nicht nach Innen bringe und ihn in mir lebendig mache, komme ich um den Tod im Außen nicht herum. Ich muss erst einmal einen Innentod vollziehen. Der Innentod ist ganz wichtig, damit nicht nachher die Seele stirbt. Denn das ist die große Bedrohung. Letztlich ist es viel schlimmer, wenn die Seele stirbt, als wenn der Körper stirbt. Wenn die Seele tot ist, hast du gar nichts mehr. Dieser Gesichtspunkt wird einfach ständig verdrängt, und zwar deswegen, weil man Angst davor hat.
AW: Hat Sie die Corona-Krise überrascht? Für viele Leute war es ein Schock.
JS: Ein Schock war es für mich nicht. Ich habe immer damit gerechnet, dass irgendetwas passiert, was uns diesem Punkt näherbringt, von dem ich gesprochen habe. Ich bedaure, dass dieser Punkt mal wieder von außen kommt, in Form eines Virus. Mir wäre es lieber gewesen, der Punkt wäre von innen gekommen, also im Denken. Da er bei mir im Denken schon da war, war ich nicht sehr überrascht. Geschockt war ich nicht. Eher im Gegenteil. Ich dachte, das ist eine Möglichkeit, wo manch einer zu sich selbst kommt.
Quarantäne finde ich zum Beispiel eine absolute Notwendigkeit. Die müsste aber meines Erachtens nicht in der Form stattfinden, wie sie nun stattfindet: Mit dieser ganzen Hilflosigkeit und Erbärmlichkeit und den großen Nachteilen für bestimmte Bevölkerungsschichten, zum Beispiel für ältere oder kranke Menschen. Das müsste gar nicht sein.
Denn was heißt Quarantäne? Quarantäne bedeutet nichts anderes, als dass ich mich auf mich besinne. Alle äußeren Einflüsse oder Traditionen einmal abschneiden und aus der normalen Gewohnheit ausbrechen, um zu überprüfen, ob die selbstverständliche Gewohnheit überhaupt noch stimmt.
AW: Ist für Sie der nächste Schritt die Verinnerlichung? Auf der einen Seite gibt es viele Leute, die durch Corona wachgeworden sind. Auf der anderen Seite gibt es Menschen, die jetzt in Urlaub fahren.
JS: Genau. Und die Leute, die wachgeworden sind, die müssen jetzt aufpassen, dass sie nicht wieder einschlafen.
AW: Dann ist jetzt die Frage, was jeder Einzelne tun kann.
JS: Jeder Einzelne kann das tun, was wir hier auch tun. Das heißt, wir können anfangen, über diesen Zustand entsprechend nachzudenken, gemeinsam in eine Kommunikation treten, um herauszufinden, wie der andere Mensch das gedacht hat und wie ich selbst das gedacht habe. Wir können beginnen, uns gegenseitig die Karten auf den Tisch zu legen. Vermutlich wird davon jeder profitieren. Das wäre ein erster Schritt. Der findet im Übrigen auch statt. Nicht überall, aber ich bin fest davon überzeugt, dass sehr viel mehr Menschen durch dieses Ereignis plötzlich in eine strengere, genauere Beobachtung hineinkommen. Wenn man es bei sich selbst regelt, kann man davon ausgehen, dass andere das auch merken (lacht). Die Sache ist einfach komisch. Es ist eine Komödie.
AW: Weil Sie es eine Komödie nennen... Kann man sagen, dass jeder seine Rolle zu spielen hat? Da wo er ist?
JS: Jetzt sind wir beim Thema Theater. Wunderbar! Das heißt, jetzt haben wir den Kunstbegriff bereits erweitert und sind von dem alten Begriff Theater in die Wirklichkeit gegangen, haben aber den alten Begriff weiter benutzt, was sehr schön ist, weil damit klar wird, dass die Wirklichkeit auch ein Theater ist. In dem Moment, wo man merkt, dass man eine Rolle spielt, hat man die Möglichkeit zu überprüfen, ob man sich etwas vormacht, oder herauszufinden, wie die Rolle aussieht, wenn ich mir nichts vormache. Dann ist der Begriff der Rolle der Begriff der Aufgabe. Ich bin dann an dem Punkt, wo ich sage: Wenn ich schon eine Rolle spiele, und ich die Rolle bin, dann schauen wir doch mal, ob die überzeugend ist. Oder kann ich mir selbst nicht in die Augen schauen, wenn ich so lahmarschig, so träge, so geil oder sonst was bin. Ich muss mich fragen: Finde ich das richtig? Und die Natur ist jetzt Mitspieler in dem Theaterstück. Früher waren das die Götter. Indirekt haben wir die jetzt wieder mit dabei, jedenfalls zumindest als Ahnung, als Idee.
AW: Zu den Begriffen: Sie sagen immer, die seien noch gar nicht richtig verstanden, die müssten wir erst richtig begreifen.
JS: Genau. Manchmal spreche ich auch von Idee. Aber Begriff ist nüchterner, toter. Deswegen bevorzuge ich Begriff, weil ich am Tod unmittelbar vor einem Zustand bin, den ich auferwecken muss. Solange ich noch im Lebendigen bin, habe ich das nicht nötig. Dann fahre ich nach Mallorca, dann freue ich mich auf den Urlaub. Das ist auch alles sehr schön. Nur ist es auch ein Zeichen dafür, dass ich in meinem Inneren die Sachen noch nicht wirklich erledigt habe, sondern, dass ich noch angewiesen bin auf irgendeine Vergnügung, die dann am Ende des Urlaubs meistens auch beschissen war.
AW: Um Rousseau zu zitieren: „Der Mensch ist frei geboren, und liegt doch überall in Ketten.“
JS: Frei geboren bedeutet, er wird mit einem Auftrag geboren. Er muss sich befreien. Frei geboren bedeutet, es beginnt mit einer Freiheit, und diese Freiheit ist der Auftrag, dich zu befreien. Am Anfang, bei der Geburt, findet die Freiheit statt, und beim Tod. Diesen Bogen von Geburt zu Tod, den muss man mit dem Freiheitsbegriff verbinden. Sonst kommt man zu keinem vernünftigen Kunstbegriff. Man kommt sonst nicht zu etwas Vernünftigem.
AW: Was mir gerade einfällt, das ist der Schmerz.
JS: Wenn ich so mache (JS kneift sich selbst in den Arm), muss man fragen, wer spürt den Schmerz (beide lachen). Ich spüre den Schmerz. Also habe ich ein Verhältnis zu meinem Körper, der sich aber nicht nur über Schmerz vermittelt. Es gibt auch andere Formen, wie Sexualität oder Freude und so weiter. Wenn ich Kontakt zum Körper habe, besteht da eine Verbindung zwischen innen und außen. Ich merke, mein Körper ist mir gegenüber auch außen. Aber es ist ein Außen, über das ich unmittelbar etwas in Bewegung bringen kann. Das heißt: Ich habe über die eigene Existenz hinaus hier auf Erden als Ich-Wesen im Körper die Möglichkeit, innen und außen unmittelbar, jedenfalls teilweise zu bestimmen. Die Selbst- und die Fremdbestimmung sind in dieser Konstellation plötzlich in einem. Das ist das neue Entdeckungsfeld.
Denn dann kommt etwas Interessantes zustande. Wir beide, die wir über unsere Körper verfügen, haben auch gemeinsame Organe, zum Beispiel die Sonne oder die Bäume. Sie sind plötzlich Organe, aber nicht meine und nicht deine. Es sind unser aller Organe. Da merkt man plötzlich, wie dieser Sprung von innen nach außen, jetzt körperlich definiert, auf einen höheren Geist kommt. Man unterscheidet dann die eigenen Organe und damit auch den Unterschied zwischen Ich und Du als körperlich voneinander unterschieden. Keiner kann zur gleichen Zeit da sitzen, wo der andere sitzt, zum Beispiel körperlich auf diesem Stuhl. Gleichzeitig hat man aber auch die Möglichkeit, die Außenwelt, die sogenannte Umwelt, zu erleben als eigentlich gar nichts anderes als die eigenen Organe. Nur mit dem Unterschied, dass sie nicht nur meine, sondern auch deine sind. An diesem Punkt haben wir dann den Egoismus im Empfinden überwunden zu einem höheren Gemeinsamen. Das ist aber dann nicht einfach Sozialismus, sondern etwas Geistiges, Spirituelles. Das ist etwas sehr Einfaches, was jeder Mensch nachvollziehen kann.
AW: Eine andere Sache: Was mir vorher bei Beuys gar nicht klar war, dass er so gut mit Sprache umgehen konnte. Er war ein wirklicher Sprachkünstler. Es gibt eine Rede von ihm, wo er gesagt hat, dass die deutsche Sprache großes Potential hat, die Begriffe auf den Begriff zu bekommen.
JS: Ja, so ist es. Die Sprache hat Beuys in dieser Rede einen Born genannt. Das bedeutet Quelle oder Schatz. Manches ist in der Sprache bereits auf eine wunderbare Art und Weise beantwortet, bevor es überhaupt begriffen wird. Wenn wir miteinander sprechen, bedienen wir uns eines Mediums, das viele Menschen verbindet. Die Sprache ist ein ungeheurer Schatz und so gesehen kommen einem die verschiedenen Sprachen plötzlich geheimnisvoll vor. Es gibt Menschen, die sehr sprachbegabt sind. Und es gibt Menschen, die sind das nicht, die können aber ihre eigene Sprache entsprechend vertiefen. Daraus entsteht irgendwann einmal die Sprache der Liebe, also die Sprache der Zusammengehörigkeit auf einer höheren Ebene.
AW: Kennst du das Gedicht von Schiller, das den Titel „Die Künstler“ trägt?
JS: Ja, das kommt mir bekannt vor.
AW: Diese Idee, dass jeder Mensch ein Künstler ist, ist gar nicht neu.
JS: Die ist so neu wie die Menschheit.
(Beide lachen)
AW: Aber wieso haben wir das dann bisher noch nicht kapiert?
JS: Das ist ein gutes Zeichen dafür, dass manche Saaten Zeit brauchen, bis sie aufgehen.
AW: Das Ich und den Ich-Begriff habe ich erst im Zuge von Corona kennengelernt. Den Begriff kannte ich vorher nicht. Ist Ihnen der schon lange bewusst?
JS: Die Ich-haftigkeit ist mir sehr präsent. Ich sage mal so: Wenn man mich fragen würde, was Geist ist, dann würde ich antworten: Ich kenne zwei Formen von Geist. Einmal Ich und zweitens Begriff. Diese zwei Formen von Geist sind mir bekannt. Und mit diesen zwei Formen kann ich arbeiten und weiß deswegen, dass die Natur auch über ein Ich verfügt. Nur kenne ich es noch nicht. Wenn ich es kennenlernen wollte, müsste ich es auch in mir selbst finden. Was sich andeutet, ist eine völlig neue Grundhaltung, die wir meines Erachtens dringend benötigen. Sonst geraten wir in eine Not, die uns zerstört.
(Es entsteht eine kurze Pause)
AW: Jeder Mensch hat schließlich eine eigene Aufgabe. Aber es gibt auch eine Gesamtaufgabe.
JS: Richtig. Wenn ein Künstler einen Auftrag hat, dann steht er vor der Frage, worin besteht mein Auftrag? Es ist ein Auftrag zur Gestaltung, möglicherweise auch zur Umgestaltung. Ein Auftrag bezieht sich immer auf die Notwendigkeit einer neuen Form. Entweder, dass ich die Form ganz neu hervorbringe, oder dass ich alte Formen ersetze durch andere Formen. Den Ursprung des Formauftrags muss der Künstler aber in sich selbst finden, und im Außen. Das heißt, wenn ich zum Beispiel feststelle, dass die Bäume zu meinem Auftrag gehören, muss ich fragen, welche Rolle spielen die Bäume. Sind sie Mitarbeiter oder sind sie einfach nur Gegenstände, die ich in irgendeiner Weise bearbeiten, fällen oder sonst was damit machen kann? Oder muss ich zu den Bäumen nicht noch zusätzlich zudem, was wir sowieso schon machen, ein ganz neues Verhältnis entwickeln? Die Gesamtaufgabe der Menschheit, oder der Erde, die kann nur erfüllt werden, indem ich vorher meine eigene Aufgabe in dieser Gesamtaufgabe entdecke. Dadurch lernst du plötzlich die anderen als Spezialisten schätzen in Sachen, in denen du dich nicht so genau auskennst wie sie. Damit haben wir den Begriff der Arbeitsteiligkeit in den Begriff der Liebe umgearbeitet, erst einmal im Denken. Die zweite Frage ist, wie wir das dann ins Fühlen bekommen. Die dritte Frage ist, wie wir es in den Willen bekommen.
AW: Es gibt bestimmte Zwänge von außen, zum Beispiel die Sache mit der Überwachung. Das, was Edward Snowden enthüllt hat, oder das mit dem geplanten Impfstoff im Zuge von Covid-19. Ich finde, vieles wird extremer.
JS: Die vermehrten Zwänge kommen dadurch zustande, weil die Freiheit noch nicht begriffen wurde, weil der Freiheitsbegriff noch nicht erlöst wurde. Ob die Zwänge nun vom Staat oder von der Gesellschaft kommen, ist natürlich etwas anderes, als wenn sie von der Natur kommen. Man muss den Menschen als Gesellschaftswesen unterscheiden vom Menschen als Freiheitswesen und vom Menschen als Naturwesen. Das sind die drei Gesichtspunkte. Die Zwänge kommen so lange von außen, wie sie noch nicht von innen kommen. Von innen sind es aber keine Zwänge, sondern Notwendigkeiten, die ich einsehe, also Freiheiten. Die Demokratie ist immer noch ein wunderbar anschauliches Beispiel, weil man es daran so klar machen kann. Aber Sie sprechen hier mehr den Computer und die Digitalisierungsfrage an.
AW: Es geht auch um die Demokratie, denn es gibt auch Gesellschaften, zum Beispiel in China, die sind weniger frei als wir.
JS: Wenn wir nicht aufpassen, landen wir da auch. Wir landen entweder im Chaos oder auch in der Diktatur. Vieles zeichnet sich in dieser Richtung ab. Aber dagegen ist nur ein Kraut gewachsen, nämlich das Kraut, was ich in mir selbst züchte, ziehe und pflanze. Es gibt keine andere Möglichkeit. Ich kann keinen anderen zu etwas zwingen.
AW: Andere Frage: Bist du zufrieden mit der momentanen Situation?
JS: Zufrieden bin ich wahrhaftig nicht, weil es hinten und vorne noch nicht stimmt. Wo ich hinschaue, sehe ich überall Dinge, mit denen ich nicht zufrieden sein kann. Das fängt bei mir selbst an, aber geht auch überall nach außen hin. Zufrieden bin ich nicht, aber auf der anderen Seite bin ich auch nicht in dem Sinne unzufrieden, dass ich dauernd ˈrummeckere oder ˈrumjammere.
AW: Mich würde noch interessieren, was du über den Tod denkst.
JS: Gut, dann reden wir über den Tod. Was heißt das jetzt über den Tod zu reden? Wir reden über einen Begriff, nämlich den Begriff Tod. Ihn als Vorstellung zu haben, ist schon ein weiterer Schritt, bei dem ich mich mit dem Begriff verbinde und ihn zu einer Erfahrungsfrage mache. Wie steht es mit dem Begriff? Haben wir ihn erfahren, den Begriff?
AW: Wie erfährt man einen Begriff?
JS: Eben das ist die Frage! Die Antwort lautet, man erfährt den Begriff. Ich kann den Tod am Todesbegriff erfahren, indem ich den Begriff als tot erlebe, als abstrakt. Wenn ich das tue, habe ich den Tod als Begriff in mein Denken geholt und weiß genau, dass das Denken nur über den Tod mitreden kann, wenn es selbst stirbt. In dem Moment, in dem das Denken stirbt, wenn ich nichts habe, in dem ich entweder untergehe in mein Unterbewusstsein, in mein Fühlen, in die Dunkelheit, wenn ich den Begriff Das Denken stirbt wirklich ganz klar vergegenwärtige, dann habe ich das Ich. Dann erlebe ich den Tod in mir selbst als einen Vorgang, den ich zumindest an dem Punkt beurteilen kann. Außerdem merke ich, dass das, was ich jetzt getan habe, überhaupt nichts mit Materie zu tun hat. Ich erlebe in mir einen materiefreien Zustand. Wenn ich das durchexerziere und immer wieder aufs Neue versuche, mich in diesen Zustand hineinzuversetzen, komme ich nach und nach immer mehr auf den Begriff des Todes und merke, dass der Begriff des Todes der erste lebendige Begriff ist.
AW: Der erste lebendige Begriff?
JS: Ja, also ich merke plötzlich, dass der Begriff Tod lebendig wird. Nicht nur, dass er mich bewegt, sondern ich bewege ihn, in dem ich ihn im Denken selbst beobachte und zu dem Ergebnis komme, dass das Denken selbst sterben muss. Ich muss den Zustand erreichen, wo ich mein Denken töte. Also, wo ich das Denken als Abstraktionsvorgang umklappe in etwas Lebendiges.
AW: Das ist super, da geht das Chaos aus dem Kopf.
JS: Richtig. Das heißt, ich habe jetzt den Tod als ein richtiges Instrument zur Schaffung von Wahrheit und Klarheit. Dann sind wir einen schönen Schritt weiter. Und damit verändert sich auch mein Verhältnis zum Tod.
(Einen Moment lang ist nur die tickende Wanduhr und der kläffende Hund des Nachbarn zu hören.)
AW: Um auf den Anfang zurückzukommen: Die Freiheitsfrage ist also immer entscheidend.
JS: Ich glaube schon. Die Freiheitsfrage ist die durchgehende Frage, die Schlüsselfrage, weil die Freiheitsfrage immer größer wird. Man kann das als Ich-Bewusstsein oder als Selbstbewusstsein beschreiben.
AW: Eine Frage noch zu Beuys: Vermisst du ihn, weil du mit ihm so eng gearbeitet hast?
JS: Ab und zu denke ich, dass es schön wäre, wenn er jetzt hier wäre und was würde er jetzt dazu sagen. Aber im Großen und Ganzen vermisse ich ihn nicht, weil er mir sehr präsent ist.
AW: Was denkst du, dass Beuys zu Corona sagen würde?
JS: Was er über Corona sagen würde, weiß ich nicht. Ich kann nur mich reden hören und gehe davon aus, dass er mir Recht geben würde, so wie ich ihn kenne. Ich meine, man muss doch wohl zugeben, dass Corona eine Wucht ist. Ich will mich in diese Diskussion aber nicht weiter einlassen. Das interessiert mich nicht. Mich interessiert vielmehr, was dieses Virus ausgelöst hat. Ich habe großen Respekt davor, weil es eine Todesbedrohung ist. Das hätte man sich vor einem halben Jahr gar nicht vorstellen können. Insofern ist Corona ein wichtiger Einschnitt, den ich auf meine Art und Weise beurteile. Ich denke, Beuys würde mir jetzt zustimmen, aber wir wissen es nicht.
(Beide lachen)
AW: Vielen Dank, Herr Stüttgen, für das Gespräch.
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Johannes Stüttgen lebt in Düsseldorf, ist Künstler, Autor sowie Gesellschafter und Mitbegründer des OMNIBUS für Direkte Demokratie. Er studierte an der Düsseldorfer Kunstakademie bei Joseph Beuys und wurde 1971 von diesem zum Meisterschüler ernannt. Stüttgen forscht und lehrt zum Erweiterten Kunstbegriff. Weitere Information finden Sie hier.
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