von Wolf-Dieter Musmann
Orientierung nach dem Untergang
Als ich geboren wurde, war der zweite Weltkrieg gerade zu Ende. Alles stand unter dem Eindruck der Weltkriegskatastrophe. Die Zerstörung der Städte und Dörfer, die viele nur aus Filmen kennen, umgab mich. Es gab Hunger und Mangel auf allen Gebieten. Das erlebte ich als junger Mensch ahnend und stimmungshaft mit. Was zu den äußeren Trümmern hinzukam, war der immer deutlicher werdende totale Zusammenbruch im Selbsterleben der deutschen Menschen. Wir waren Unterlegene einer totalen Niederlage. Das merkte ich als Kind mehr und mehr.
„Du bist Deutscher. Einer aus dem Volk der Verbrecher, die die Weltkatastrophe verursacht haben.“ Das war schrecklich für mich und ich wusste lange nicht, wie mit diesem Druck auf mein im Werden begriffenes Selbstgefühl umzugehen. Meine Eltern schwiegen zu der Vergangenheit. Sie gaben mir wenig Stütze bei meiner Suche nach Halt. Sie hatten selbst eine Erziehung erlebt, die sie zu Unterwerfung unter den Stärkeren, zu Gehorsam aus Angst gezwungen hatte, und sie hatten unter der Wirkung einer undurchschauten, das nationale Selbstgefühl hochjubelnden Propaganda gestanden. Sie hatten an das Gute geglaubt und wurden zu Mittätern des Bösen. Der Schock saß tief.
Auch in der Öffentlichkeit gab es keinen Halt für mein inneres Aufrichten. Unter dem Diktat der Sieger wurde damals alles niedergemacht, was von Tugenden der Deutschen sprach, und von einem notwendigen Bedürfnis der jungen Menschen nach Selbstachtung. Nur diejenigen, die die Schande beschworen, und das „Nie wieder“ ständig wiederholten, waren zu hören. Woher konnte die Selbstachtung kommen?
In den damals wenigen Begegnungen mit ausländischen Jugendlichen war ich noch mit 20 Jahren ein Außenseiter. Die Jugendlichen aus den Siegervölkern, denen ich begegnete, waren stolz. Sie waren hochgestimmt und konkurrierten eifrig untereinander. Jeder wollte gut vor den anderen dastehen und andere mit seiner Persönlichkeit und Herkunft beeindrucken. Mich betrachteten sie als Deutschen und damit als Verlierer. Trotzdem war etwas in mir, das immer wieder deren Kontakt suchte.
Natürlich suchte ich damals, wie jeder junge Mensch, in meinem Umfeld etwas, mit dem ich mich identifizieren konnte. Auch wenn es mir damals schmerzhaft erschien und ich neidisch war auf die, die aus ihrer nationalen Identität Stärke ziehen konnten. Als Deutscher konnte ich damit nicht mithalten. Ich wollte es auch nicht wirklich. Ich erkannte damals schon die Konturen: Der Nationalstolz in Europa und der Welt hatte die Menschen scharf voneinander getrennt, hatte ihnen ein trügerisches Machtgefühl verliehen und die Welt in Freunde und Feinde geteilt. Die größten Kriegskatastrophen der Weltgeschichte waren die Folge.
Studienjahre im Kampf gegen Traditionen
In der Nachkriegsöffentlichkeit wurde vor allem eine verfehlte Pädagogik für die Katastrophe verantwortlich gemacht. Das war nicht nur der Tenor der Siegermächte und mancher Universitätsprofessoren und Literaten. Für mich und Teile der jungen Erwachsenen war das von Anfang an voll verständlich. Ich entschloss mich, auch noch aus anderen Gründen, Lehrer zu werden. Ich wollte durch eine andere Erziehung der Kinder eine Wiederholung der Kriegsursachen verhindern.
Aber in der Praxis wurde ich überraschend mit einer Pädagogik konfrontiert, die ich nicht erwartet hatte. Rohrstock und Ohrfeige waren in den Schulen noch nicht verboten. Nicht einmal verpönt. Manche Eltern benutzten Stock und Hand selbst. Manche nahmen diese „Behandlung“ ihrer Kinder einfach schweigend hin. Man sprach dabei von Autorität. In meiner Schulzeit war Gehorsam noch eine gängige Vokabel gewesen. Das war aber nicht erst seit Hitler so, sondern bereits davor, und im Deutschen Kaiserreich. Aber nach der Katastrophe? Mir war klar: Gewaltvolle Autorität durfte nicht sein. Gehorsam war keine Tugend.
Ich erlebte, wie im Herzen der misshandelten Kinder die Achtung vor dem Lehrer schwand. Sie machten sich heimlich lustig, wurden aufmüpfig oder bekamen Angst und Schuldgefühle. Aber sie verloren nicht nur die Achtung vor dem Lehrer, sondern oft auch ihre Selbstachtung. Wer seine Selbstachtung verliert, behandelt auch andere achtlos. Das konnte ich im Umgang der Schüler miteinander erleben. Doch nicht alle beugten sich den Autoritäten. Manche wehrten sich gegen diese Form der Erziehung. Sie wehrten sich allerdings in einem Alter, in dem eigentlich Vertrauenskraft gebildet werden sollte.
Für die damals florierende „Wirtschaftswunderblüte“ war der Gehorsam eine gute Grundlage. Im Wiederaufbau mussten alle ran. Es hieß, nicht sich beklagen. Zupacken. Machen, was der Chef sagt. Die Wiederaufbaujahre schienen also zunächst alte Tugenden und Hierarchien wie Notwendigkeiten fortzusetzen.
Dagegen regte sich in der Jugend Widerstand. In den sechziger Jahren begannen Unruhen an den Universitäten. Studenten, unter ihnen überdurchschnittlich viele, die damals internationale Verbindungen pflegten, begannen den Protest gegen alte Autoritäten und deren Methoden. Ich war dabei, aber nicht mittendrin. Es missfiel mir die aggressive, gewaltsame Art, wie der Widerstand sich ausdrückte.
Aufbruch in auseinanderbrechenden Strukturen
Anfang der 1960 war ich ein noch recht konservativer Jugendlicher, aber ich spürte, in den Menschen begann sich etwas zu bewegen. Es gab Aussteiger, Geistsucher, Alternative Lebensformen, Antifaschisten. Sie wurden alle misstrauisch beäugt von der Mehrheit der Deutschen.
„Ruhe ist die erste Bürgerpflicht.“ So zitierten die Studenten ironisch die Parolen des Kaiserreichs. Es gab Krawalle. Polizei musste her. Die jungen Menschen wollten raus aus der verordneten Friedhofsruhe, aus der lebensfeindlichen Ordnung, raus dem System von Arbeitszwang, Konsumzwang und Kriegszwang.
Interessanterweise war damals die Jugend sehr mit kommunistischen Parolen unterwegs. Die wenigsten wollten realen Kommunismus, sahen sie doch durch den eisernen Vorhang der Propaganda des Kalten Krieges und der deutschen Teilung nach Osten. Sie nutzten die Parolen, um laut, aber nicht voll bewusst, wie mit einer unterschwelligen Drohung die „verkrusteten Strukturen“ des „Establishments“ zu erschüttern. Linksorientierte Philosophen und Soziologen bestärkten sie. „Die da oben“ waren dagegen.
Massenjugendkultur wie die Beatles und Rolling Stones zogen viele in ihren Bann. Konzertveranstaltungen wurden zu Exzessen. Ich sah mich damals als Kritiker dieser Extasen, die zu zerschlagenen Sälen und Polizeieinsätzen führten. Ich wollte nicht Masse, sondern Individualität und Gedankenklarheit. Im Nachhinein sehe ich, dass in diesem exzessiven Verhalten eine Befreiung von engen, überkommenen Vorstellungen stattfand, die dem Einzelnen mehr Eigenraum verschafften.
Zunächst aber erschütterten die Politiker die Jugend. Ich selbst war 1968/69 als Wehrpflichtiger in einer Kaserne in Koblenz. Politiker hatten lanciert, dass bald die Bundeswehr gegen die Studentenrevolten eingesetzt werden sollte. Ich rüstete mich innerlich auf eine Befehlsverweigerung. Auf Studenten schießen wollte ich nicht, aber durch den erlebten Drill, auch als Sanitätssoldat, war ich nicht sicher, ob ich das schaffen würde. War ich stark genug, zu meinen Werten zu stehen?
Zum Glück kam es nicht dazu. Die Jugend, viele einzelne Menschen gemeinsam, eroberte sich Stück für Stück, mit großen Risiken für ihr eigenes Fortkommen, neue Rechte innerhalb der Universität. Sie demonstrierten ernsthaft. Sie erreichten mehr Mitsprache, mehr Freiheit für Lehre und Forschung. Langsam drehte sich auch die populäre Presse in ihrer Berichterstattung. Studenten waren nicht mehr nur anarchische Bösewichte und Faulenzer, sondern wurden progressive Kräfte.
Es kam auch zu einer Lockerung des Verhältnisses der Menschen hinsichtlich der Leiblichkeit. Sex wurde ein öffentliches Thema und es wurde heiß und leidenschaftlich darum gekämpft. Ein Thema war die Pille und die sogenannte geschlechtliche Aufklärung, die dem Impuls zur Gleichstellung der Frauen neuen Auftrieb gab. Frauen tauchten in neuen Rollen auf und begannen öffentlich mitzugestalten. Ich neigte dazu, nach einem neuen Rollenverständnis auch für mich als Mann zu suchen. Ich wollte es anders machen.
Als ich in den 1970er Jahren ein zweites Studium an der Mainzer Universität absolvierte, war ich mit vielen Studenten verschiedener politischer Couleur zusammen. Neben dem Studium nahmen viele von uns an sozialen Projekten teil, legten sich mit bürokratischen Institutionen an und organisierten Demonstrationen. Es war sehr deutlich: Viele von uns wollten Veränderungen, vor allem im Sozialen und hinsichtlich der persönlichen Freiheiten. Nur über die Wege und Mittel diskutierten wir heftig. Ich war einer der Ältesten unter ihnen, war schon im Beruf und wollte nicht einfach demonstrieren und schreiend Gruppendruck machen. Die einnehmende Solidarität, wie sie in den Terroristengruppen herrschte, und die linksradikale Sprache vieler Organisationen stießen mich ab.
Der Einsatz vieler Menschen blieb nicht ohne Erfolg. Die Umwandlung des Wirtschaftslebens durch das sog. Betriebsverfassungsgesetz erfasste schließlich auch die Jugend und die arbeitende Bevölkerung außerhalb der Universitäten. Hinzukam, dass die Jugend sich immer mehr vernetzte. Die Bewegung wurde internationaler. Europa formte sich als Wirtschaftsraum - schließlich war der Aufbruch international.
Ich denke, dass durch die vielen internationalen Begegnungen, das neu entstehende Vertrauen und die unmittelbaren Ich-Erlebnisse in der Begegnung mit Anderen ein neues Klima entstand. Das geschah auf den Ebenen der Politik, der Wirtschaft und der Kultur.
Ideologien und Kalter Krieg
Aber noch war die Welt in zwei Lager gespalten. Die sogenannte „freie Welt“ unter Führung der USA behauptete, der einzelne Mensch sei die Quelle für den Wohlstand und die kulturelle Entwicklung des Menschen. Die absolute Befreiung des Ich-Menschen, die Beseitigung aller Hemmnisse, namentlich der Egoismus der einzelnen Menschen sollte, wie durch eine unsichtbare Hand gelenkt, wachsenden Wohlstand und eine Höherentwicklung für alle Menschen schaffen. Alles Kommunistische, alles gewerkschaftlich, gemeinschaftlich oder solidarisch orientierte wurde als Hemmnis einer freien Entwicklung angesehen und teils öffentlich, teils heimlich bekämpft.
Dieses Credo wirkt bis auf den heutigen Tag und brachte den Kapitalismus und die unkontrollierte Globalisierung hervor. Doch genau betrachtet zeigten sich mir darin zwei Seiten. Erstens: Das stärkere Ich kann das schwächere nutzen und ausbeuten. Dies führt bis heute zu großen Unterschieden zwischen einer riesigen Anzahl armer Menschen und einer geringen Anzahl reicher Menschen. Zweitens: Es gibt eine grundsätzliche, gesetzliche Anerkennung der einzelnen Menschen mit unveräußerlichen Menschenrechten.
Der kommunistische Teil der Welt unter Führung der Sowjetunion ging davon aus, dass gerade das Bestreben des Einzelmenschen die Wurzel allen Übels sei. Daraus folgte eine Bekämpfung des Egoismus mit allen pädagogischen, propagandistischen und gewaltsamen Mitteln. Es hieß: Zuerst das Kollektiv! Wir sind eine Gemeinschaft! Wir sind grundsätzlich alle gleich und alle Arbeit und alles Streben hat der Gemeinschaft zu dienen!
Diese Gedanken beriefen sich vor allem auf Karl Marx, der aus einer gründlichen Analyse der Lage der Arbeiter in der beginnenden Industrialisierung die Notwendigkeit erkannt hatte, die Kapitalisten in ihrem egoistischen Machtstreben zu kontrollieren. Er wollte den Arbeitern zu ihrem Menschenrecht verhelfen. Sein Aufruf „Proletarier aller Länder vereinigt euch“ war ein Aufruf zum Klassenkampf, der schließlich unter Leitung des Russen Lenin zu einer Revolution in Russland geführt hatte.
Das Kollektive sollte das Ich des einzelnen ersetzten. Eine große Welle von Kriegen gegen den Einzelnen, Enteignungen, Verschleppungen und Ermordungen waren damit verbunden. Das Wirken eines persönlichen Ichs wurde in der Form des sog. „Bolschewismus“ oder „Stalinismus“ mehr und mehr unterdrückt.
Die beiden Blöcke standen sich kriegerisch gegenüber. Sie rangen auch um die Länder der sog. „dritten Welt“, um die Länder, die in der Folge des zweiten Weltkriegs entkolonialisiert wurden. Die einzelnen Menschen in diesen Ländern sollten nun unter der Knute des Kapitalismus schuften, oder sich kommunistische Zügel anlegen lassen. Dazu diente die sogenannte Entwicklungshilfe, die mit Geldzahlungen, einseitigen Geschäften, Waffenlieferungen und dem Anheizen innerer Konflikte diese Länder in Abhängigkeiten brachte. Von beiden Seiten bezeichnete die Propaganda das Handeln der eigenen politischen Eliten als „Befreiung“.
Im starren Denken dieser politisch-ideologischen Blöcke erkannte ich nur vordergründig die Auseinandersetzung um Macht und Selbstverteidigung. Im Hintergrund der offenen Auseinandersetzungen fand ich die Frage nach dem Ich des einzelnen Menschen und seinem Verhältnis zur Gemeinschaft.
In der Anthroposophie traf ich auf Menschen, die den ideologischen Kampf der Mächte im Westen gegen die Mächte im Osten auch für einen Irrweg hielten. Sie versuchten, einen dritten Weg zu verstehen.
Der Dritte Weg
Etwa zur Zeit der russischen Revolution, hatte Rudolf Steiner die Idee der Dreigliederung des sozialen Organismus in die Welt gesetzt und damals viele Anhänger gefunden. Er wollte den drei Bereichen des öffentliche Lebens (Wirtschaft, Kultur und Politik) eigene innere Gesetzmäßigkeiten zugestehen. Jeder einzelne Mensch sollte an allen drei Bereichen aktiven Anteil haben.
Dabei betrachtet er das Ich des Menschen nicht als das Ergebnis der biologischen Vererbung oder der Sozialisation, sondern als einmalige und unwiederholbare Geistgestalt, die erdunabhängige, spirituelle Wurzeln hat. Diese Vorstellung faszinierte mich.
Doch der anthroposophische Impuls konnte sich nach dem ersten Weltkrieg nicht durchsetzen und es trat die von ihm vorausgesagte Spaltung der Welt in Ost und West ein. Rudolf Steiner gründete darauf hin im Jahr 1919 die Waldorfschule. Sie sollte den Boden bereiten für die Entwicklung der inneren Freiheit jedes einzelnen Kindes, um sich altersentsprechend in Kultur, Wirtschaft und Politik zu verankern. Auf dieser Grundlage könne sich ein dreigegliederter sozialer Organismus entwickeln.
Aber nicht nur bezüglich eines organischen Aufbaus der gesamten Gesellschaft fand ich interessante Gedanken in der Anthroposophie. Mir begegnete auch eine neue Auffassung von Autorität für das Lehrerdasein. Die neue Perspektive sah vor, der Lehrer solle seine Kinder von ganzem Herzen lieben. Er solle sie vor allem in den ersten acht Jahren der Klassenlehrerzeit so liebevoll führen, dass sie ihm freiwillig und zwanglos folgten. Vertrauen war die Grundlage dieser Autorität, nicht Übermacht. Das war für mich einleuchtend und gleichzeitig revolutionär, forderte sie doch auch gleichzeitig mich als ganzen Menschen heraus.
Auch die anthroposophischen Aktivitäten auf den verschiedenen anderen Praxisgebieten von Landwirtschaft, Medizin, Heilpädagogik, Religion und Kunst lernte ich sehr schätzen. Immer deutlicher wurde mir, es handelte sich dabei nicht nur um eine andere Glaubensrichtung, sondern insgesamt um einen dritten Weg.
Einzelne Menschen mit einem starken inneren Impuls und im ständigem Ringen mit den herrschenden Zeitströmungen gründeten Initiativen und hielten die Erinnerung an diesen gänzlich neuen Weg wach. Sie opferten und riskierten viel und hatten materiell oft geringe Sicherheiten. Heute zeigt sich immer mehr, wie wichtig solche Ich-getragenen Leistungen in Katastrophenzeiten sein können.
UNO, NGO‘s und starke Iche
Eine weitere Entwicklung der Nachkriegszeit auf der Ebene der großen internationalen Politik ist mir wichtig, in meine Betrachtungen mit aufzunehmen, auch weil es einen großen Einfluss auf das Handeln einzelner Menschen hatte. Es war der Versuch, einen neuen Völkerbund, die „Vereinten Nationen“ zu schaffen. Die Vereinten Nationen hatten nicht in erster Linie das Recht des einzelnen Menschen auf ihre Fahnen geschrieben, sondern die Gleichberechtigung der Nationen.
Die Bereitschaft dazu war nach dem zweiten Weltkrieg groß, doch blieb die Macht der UN gering, da die Großmächte nicht wirklich an einer weltweiten Zusammenarbeit interessiert waren. Sie konnte sich nur dort durchsetzen, wo die Interessen der Großmächte nicht tangiert waren.
Ich habe erlebt, dass Menschen der UNO eine Kraft brauchen, die nicht nur aus ideologischem Eifer kommen kann, sondern die sie trotz vieler Rückschläge immer wieder aus sich schöpfen müssen. Heute erfordert es mehr Geduld und Erfülltsein von der Vision der Menschenrechte denn je, um dem Fernziel der UN weltweit zum Leben zu verhelfen. Es genügt nicht, die Menschenrechte zu erklären. Man muss heute härter als kurz nach dem Krieg für ihre Verwirklichung arbeiten.
Vielen gelang das Schöpfen aus der eigenen Kraft auch außerhalb der UN. Es entstanden als Alternative zu den Ideologien von Ost und West heraus individuelle Privatinitiativen, die Nicht-Regierungs-Organisationen, Non-Governmental-Organisations oder NGOs, während die alten Kräfte nicht verschwanden. Die NGOs entstanden meist aus den Initiativen von Einzelpersonen, die sich auf Grund erkannter Veränderungsnotwendigkeiten zu Gruppen zusammenschlossen. Sie gründeten gemeinnützige Vereine oder Stiftungen. Finanzieren mussten sie sich durch Spenden, durch das Engagement einzelner Menschen.
NGOs sind auf ähnlichen Gebieten wie der Staat und die Wirtschaft tätig. Aber sie zeigen Fehlentwicklungen auf und durch den individuellen Impuls und das Getragen-sein ihrer Mitglieder werden sie in grundsätzlich individuellere Richtung gelenkt, als Staaten und Konzerne das zulassen können.
Heute, mehr als noch vor zwanzig Jahren, sind diese Organisationen nicht nur mit der Aufgabe beschäftigt, die sie sich zum Ziel gesetzt haben, sondern müssen sich ständig gegen finanzielle Abhängigkeiten und Reglementierungen und Beschneidungen von Seiten des Staates wehren. Auch vor Unterwanderungen durch wirtschaftliche Interessen und Organisationen müssen sie auf der Hut sein. Sie werden vielerorts eingeschränkt oder verboten, denn ihre Wirksamkeit lässt sich nicht vollständig staatlich überwachen. Auch die multinationale Konzerne betrachten die NGOs als lästig und bekämpfen sie mit vielen Mitteln.
Ich selbst bin weder in der UNO noch in einer internationalen NGO tätig geworden. Aber die Gründung einer Waldorfschule ist so etwas wie eine kleine NGO. Es ist ein freier Zusammenschluss von Eltern und Lehrern, die im ständigen Gespräch und in gemeinsamer Organisation etwas Neues für ihre Kinder schaffen wollen. Das ist immer auch mit einem Risiko behaftet.
Ursprünglich erkenne ich in solchen Organisationen den Ausdruck von verbundener Ich-Kraft, die praktisch tätig wird. Die Personen eines solchen neuen sozialen Gebildes gehen ganz neue Wege. Sie treffen unmittelbar von Ich zu Ich aufeinander. Sie haben keinen Schutzschild durch Vorgesetzte, Amtsbefugnisse, Gesetze oder Verordnungen. Ideal trifft auf Ideal, Wille auf Wille. Oft eifern sie sehr und es kann Kampf entstehen. Aber sie lernen, einander in Achtung zu begegnen, fair zu kämpfen und das Ziel nicht aus den Augen zu verlieren.
Zwei starke Handlungen
Die persönlichen Auseinandersetzungen mit Ideologie und Praxis zeigten sich mir nicht nur bei öffentlich unbekannten Personen, sondern auch immer wieder bei herausragenden Persönlichkeiten. Zwei Handlungen waren für mich besonders eindrücklich.
Als es nach dem Krieg um eine vollständige Kontrolle und Eindämmung Deutschlands gegangen war, hatte der französische Außenminister Schumann einen gänzlich neuen Weg versucht. Er hatte den Plan zum Aufbau einer „Deutsch-Französischen Freundschaft“ vorgelegt. Die französischen Sieger-Nationalisten waren Sturm dagegen gelaufen. Adenauer hatte sich dem Plan angeschlossen und war dafür von den deutschen revanchistischen Nationalisten stark angefeindet worden.
Trotz dieser Gegenkräfte konnten beide Politiker einen Keim legen, der bis heute noch nicht vollendet ist. Er gilt als Keim für Europa. Europa, wussten beide, entsteht nicht von selbst, sondern durch die Kraft von Menschen, die es mit Überzeugung vorantreiben.
Ähnlich bedeutsam ist für mich der Kniefall von Willi Brandt in Warschau. Er war damals äußerst umstritten. Von mir wird er als ein Zeichen von Ich-Kraft erster Güte gedeutet. Durch seine Tat wurde eine Zusammenarbeit mit dem kommunistischen Osten möglich. Es war eine erste Ahnung vom Ende des Kalten Krieges zwischen den Weltblöcken „Freie Welt“ und Sowjetunion.
Frei sein
Individualisierung, als Leben aus der eigenen Ich-Kraft ist keine Selbstverständlichkeit. Sie muss gewollt sein und muss geübt werden. Sie gelingt nicht einfach durch das Ausbrechen aus einem System, einer Gemeinschaft oder einer Weltanschauung.
Individualisierung belastet den Menschen auch. Er muss darum ringen und sich behaupten. Und es besteht die Gefahr nach kleinen Erfolgen für die persönliche Freiheit in neue Zwänge neuer Kollektive zurückzufallen, wo man sich wieder sicher fühlen kann.
Hoffnung gibt mir, dass wenn die Quelle des Ichs einmal freigelegt ist, von dort die Kräfte kommen, selbstbestimmter zu leben und die Angst überwunden werden kann, was daran hindert, in alte Sicherheiten zurückzukehren.
Wie also muss die Umgebung sein, in der die Jugend aufwachsen müsste, um die Freiheit zu lieben, ihre Belastungen zu ertragen und ihre eigene innere, mitgebrachte Erneuerungskraft in Fluss zu bringen?
Das war die Aufgabenstellung, die Rudolf Steiner 1919 mit der Gründung der Waldorfschule den Lehrern stellte und die ich mir mein ganzes Leben hindurch als Lehrer stellte. Heute ringen viele Pädagogen darum, in Ost und West, in Süd und Nord, und die Länder vergleichen sich.
In den vielen, vielen Gesprächen, die ich mit Eltern führen durfte, fand ich oft eine Frage an mich: Ist das was Sie hier vertreten und praktizieren ihr Eigenes, etwas Authentisches, oder leben Sie nur nach Rezepten von Rudolf Steiner? Ich konnte Ihnen nicht versichern, wie es war.
Manche haben nach einiger Zeit geglaubt, das, was ich tat, sei das Richtige, und haben es an ihren Kindern für richtig befunden. Manche haben nach einiger Zeit die Schule gewechselt, aus den unterschiedlichsten Gründen. Waren es freie Entscheidungen? Oft wussten Sie, was sie nicht wollten. Manchmal fühlten sie, wenn irgendwo etwas genau so war, wie sie es für ihre Kinder gut fanden. Manchmal fühlten sie auch nur, dass da etwas war, wo sie ihrem erahnten Verständnis näher kommen konnten, in allen Schularten oder -systemen. Was trieb sie an? Wollten sie eine bessere Förderung für die Anlagen ihrer Kinder? Wollten sie bessere Abschlüsse für einen günstigeren Start ins Leben? Es gab sicher viele Gründe. Ich wage nicht, darüber zu urteilen. Es schien mir oft eine überrationale Instanz in den Eltern zu sein, die diese Entscheidung trafen. War es deren Ich-Wirkung?
Auch ich beschäftigte mich oft mit der Frage, ob meine Arbeit wirklich das war, was ich für mich und die Schüler gesucht hatte. War ich selbst schon frei genug gewesen, den Schülern die richtige Hilfestellung zu geben? Oder hatte ich sie in vorgeprägte Bahnen gelenkt, in vorgeprägte Begriffe oder traditionelle Handlungen.
Entscheidend wurde mir, dass Eltern, Lehrer und Schüler lernten, darauf zu achten, was aus jedem Menschen heraus will, was aus einem unsichtbaren höheren Impuls in jedem einzelnen in den Lebensgang sich entwickeln will, und dass sie alle Hindernisse, Überlagerungen, Verunsicherungen und Ängstigungen beseitigen; bei Eltern, Schülern und Lehrern.
Individualisierung und Freiheit müssen geschützt werden. So wie ein junger Keim nicht sofort der vollen Belastung und Bedrohung des Lebens ausgesetzt werden kann, müssen sie gepflegt und gehegt werden.
So erlebe ich im Kleinen, was man vielleicht aus dem Gesagten erkennen kann: weltweit ringen kollektivistische Kräfte, Staaten, Militärblöcke, Wirtschaftsmächte, Religionen und Traditionen um Existenz oder Vorherrschaft. Einzelne Menschen müssen darin ihren Platz finden. Ob der einzelne darin von Bedeutung ist, ergibt sich daraus, ob seine Impulse wirklich stark und frei sind, ob er im rechten Zeitpunkt wirksam wird und ob er sich mit verwandten Ich-Impulsen verbinden kann.
Freiwillige Verbindung mit anderen ist nicht Kollektivismus, denn auch im gemeinsamen Kampf für ein Ziel muss der Einzelne so frei wie möglich bleiben. Wer allerdings seinen eigenen Willen zur Richtschnur seiner Partner machen will, missachtet die Würde und Kompetenz der anderen Menschen, auch wenn er noch so stark von sich überzeugt ist.
Es ist möglich, dass der Einzelne in vielen anderen Einzelnen, die mit den herrschenden Strömungen mitschwimmen, etwas wachrufen kann. Die Ich-Kraft ist in jedem latent vorhanden. Aber sie muss geweckt werden. Sie muss oft befreit werden aus dem Druck der Angst und dem Bedürfnis nach Schutz. Oder es muss ihr zumindest geholfen werden, sich selbst zu befreien. Dann kann sie zum Keim werden für neue Entwicklungen, wie sie die ganze Menschheit braucht.
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