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Mich zu optimieren kenne ich nur zu gut. Hatte ich doch schon tausend Pläne, um irgendetwas an mir zu verbessern. Viele Programme hatte ich angefangen, und wenig später wieder abgebrochen. Diesem Verbesserungswahn ein für alle Mal Adjieu zu sagen, versprach ich mir aus einer Lektüre. Und tatsächlich: Die Komik, die sich mir als Leser des Buches von zwei ergebenen Selbstoptimierern offenbarte, war ein Stück weit heilsam. von Axel Stirn

Foto: Axel Stirn


Auf der Suche nach dem Perfekten Ich - Ein Jahr in der Optimierungsindustrie lautet der Titel des Buches der beiden Autoren Carl Cederstrom, Assistenzprofessor für Organisationstheorie an der Stockholm Business School und André Spinner, Professor für Organisationsverhalten an der City University London. Sie wagten ein Experiment. Sie wollten nicht nur über die Optimierung anderer forschen, sondern diese selbst empirisch erleben. Mit Körper, Seele und Geist. In ihrem Vorwort, das in Interviewform gehalten ist, beschreiben sie, um was es ihnen ging:

Fast genau ein Jahr zuvor, am 1. Januar 2016, ließen wir uns auf etwas ein, das nicht nur Guardian-Leser zweifellos für verrückt hielten. Wir verbrachten ein Jahr damit, alles zu testen, was die Selbstverbesserungsindustrie anzubieten hat - mit dem Plan, es in einem Buch zusammenzufassen. [...] Wir begannen im Januar mit Produktivität. Dann beschäftigten wir uns in den folgenden Monaten mit dem Körper, dem Gehirn, Beziehungen und Spiritualität. Während der Sommermonate widmeten wir uns dem Sex, dem Vergnügen und der Kreativität. Im Herbst optimierten wir Geld, Moral und Aufmerksamkeit. Der letzte Monat war der Bedeutung gewidmet in den Hoffnung die tieferen Motivation hinter diesem Projekt zu verstehen.

[...]


In einer Konsumgesellschaft sollen wir nicht nur eine Jeans kaufen und dann zufrieden sein. Das Gleiche gilt für die Selbstverbesserung. Es genügt nicht, dass wir nur einen Bereich unseres Lebens verbessern. Wie werden aufgefordert, alle Teile unserer Lebens aufzurüsten, alles auf einmal. Wir sollen fitter, glücklicher, gesünder, reicher, klüger, ruhiger und produktiver werden - alles zugleich, alles möglichst sofort. Und wir stehen unter dem Druck das zu beweisen, dass wir wissen, wie man das perfekte Leben führt.


Dieses Buch bietet kein Theorie darüber, wie man ein besserer Mensch wird, sondern reflektiert vielmehr die Verzweiflung und Frustration, das Drama und die Komik, die der Suche nach Selbstverbesserung innewohnen - die gleiche Suche, die Millionen Menschen an jedem Tag betreiben.“

Monat für Monat optimieren die beiden Männer ihr Ich, oder eben das, was sie dafür halten (sollen), und korrespondieren darüber. In Tagebuchform erzählen sie davon. In kleinen Absätzen, meist abwechselnd geschrieben, folgt man ihren Strapazen und ihrem verzweifelten Bemühen, das Optimum zu erreichen. Nicht immer machen sie Gleiches, manchmal nur Ähnliches. Immer stehen sie miteinander in Korrespondenz und sprechen offen über ihre Beziehung zueinander.


Im Januar optimieren sie ihre Produktivität, im Februar ihren Körper, im März ihr Gehirn. Im April widmen sie sich ihren Beziehungen, im Mai der Spiritualität. Der Juni gilt dem Sex, der Juli dem Genuss, der August ihrer Kreativität. Den September füllen sie mit dem Thema Geld, den Oktober mit Moral, den November mit Aufmerksamkeit und den letzten Monat des Jahres mit Bedeutung.


Die Texte sind, bei allem Wahnsinn, dem sie sich unterwerfen, äußerst humorvoll. Jeden Monat begegnen sie anderen Herausforderungen, schonen sich nie und kommen dabei immer auch in die spezielle gesellschaftliche Szene, deren Lebensinhalt darin zu bestehen scheint, ihren speziellen Bereich bis ans unerreichbare Ziel zu optimieren. Absatzweise musste ich mir Tränen aus den Augen wischen, weil mich die absurden Momente und satirisch wahrhaftigen Beschreibungen trafen.

Warum es mich traf? Ich hatte auch schon Programme angefangen, aber mir war jedesmal klar geworden, dass ich einer Optimierung nachlief, deren Wesen ich nicht selbst erzeugt hatte, sondern deren Inhalt, Gestalt und Wert ich dem gedanklich konstruierten „Optimalsein“ anderer Menschen entlehnt hatte. Jedesmal war es ein Bemühen gewesen, innerhalb der Bewertung anderer „besser“ zu werden. Ich spürte eine Ahnung, die konkreten Inhalte eines Optimums nicht in ergebnisorientierten Ego-Programmen finden zu können. Die Ziele meiner Selbstoptimierung dürften, so ahnte ich, „nicht von dieser Welt“ und schon gar nicht aus dem „Ich glänze, um dir zu gefallen“ - Motiv stammen.

Bei aller kritischer Betrachtung des Selbstoptimierens, begegnen den beiden Helden jeden Monat auch wesentliche Fragen, die auf herzliche Pfade hinweisen. Aber da das Buch kein Ratgeber sein will, sondern eine unterhaltsame Dokumenation eines Selbstexperiments, bleibt dem Lesenden aller Interpretationsraum offen und es an ihm, zwischen den Zeilen der Erlebnisse zu lesen.

Gegen Ende wird sogar noch ein ganz großes Fass aufgemacht. Die beiden Optimierer werden von einem Gesprächspartner herausgefordert, das eigene Streben fundamental zu hinterfragen. Das Thema, auf das sie zu sprechen kommen, passt zum teilweise aufgetretenen Gesundheitswahn während der Corona-Zeit.


Von einigen Ärzten und Psychologen wurde bereits bemerkt, dass unser gesellschaftlicher Umgang mit tödlichen Krankheiten streckenweise selbst eine Art „Denk-Krankheit“ ist, da sie einen wesentlichen Aspekt unseres Daseins außer Acht lässt, und die Gesellschaft sogar aktiv versucht, Gedanken an den Tod zu verdrängen.

Einer der Buchautoren äußert am Ende des Buches den Verdacht, es könnte stimmen, dass etwas Grundlegendes hinter dem Streben nach Selbstoptimierung liege und fragt den Gesprächspartner im Schlussinterview zurück: „Du sagst also, dass es bei dem ganzen Projekt darum ging, dass wir versucht haben, mit unserem Tod zurande zu kommen?“

Aktualisiert: 5. Aug. 2020

Was ist mit unserem politischen System los? Und wie kann ich dazu beitragen, Teil der Kraft zu sein, die das Gute schafft? Dieser und weitere Fragen und möglichen Antworten folgen wir im Gastbeitrag von Thorsten Buchacher

Foto: Thorsten Buchacher


Vorerst möchte ich mich für die Gelegenheit bedanken, meinen Gedanken in einem öffentlichen Rahmen Ausdruck verleihen zu dürfen. Dies ist bei systemkritischen Themen heutzutage leider alles andere als selbstverständlich. Daher erachte ich die Plattform „Keime für die Zukunft“ als eine sehr wichtige Einrichtung, die mit ihrem Engagement ein wertvolles Zeichen setzt.


Wir sind Teil des gesellschaftlichen Systems, und tragen somit auch die Verantwortung, dieses mitzugestalten. Ich bezweifle, dass dies mit der Inanspruchnahme des Wahlrechts in ausreichendem Umfang passiert.


Vertrauen in die Politik zu haben ist meiner Meinung nach nur dann gerechtfertigt, wenn klare Absichten in ihrer Handlung erkennbar sind, welche die Gleichberechtigung und die Würdigung allen Lebens als Grundlage haben. Da dies offensichtlich seit langer Zeit eher weniger der Fall ist, frage ich mich, welche Möglichkeiten sich bieten, unsere Kräfte individuell, aber auch vereint, gezielt wirken zu lassen. Mit Kräfte sind in diesem Zusammenhang natürlich jene gemeint, die unserer Gedanken und Gefühlen entspringen. Eine innere Haltung, aus der wir uns intuitiv zu einer friedvolleren, sich achtenden und gegenseitig unterstützenden Gemeinschaft entwickeln.


Da jede Kraft eine Richtung braucht, um wirken zu können, erachte ich es für notwendig, die Ich-Kraft in einen Kontext zu stellen, der diese Richtung andeuten soll. Dieser Kontext ergibt sich aus den Fragen, wo wir als Gesellschaft hinwollen, was wir noch tolerieren können, und wo es schon leichtsinnig erscheint, Umstände hinzunehmen.

Es ist allgemein der Fall, dass wir in einer fragmentierten Welt leben, was heißen soll, dass die Themen, die gerade medial verbreitet werden, oft isoliert betrachtet werden. Das große Ganze bleibt oft im Verborgenen. So fällt es uns manchmal schwer, die Säulen in unserem Leben zu bestimmen, die uns nicht nur tragen, sondern auch als Orientierung dienen sollen.


Das System, das uns daran hindert, frei zu sein, ist einfach. Man kann Menschen mit einem Thema emotional treffen, sie in eine angstvolle Schockstarre versetzen, und schon klammern sie sich ängstlich an den Strohhalm, den man ihnen als Rettung hinhält, und tolerieren Maßnahmen, die dem Entgegenwirken einer beschriebenen Krise scheinbar dienen. Dabei ist es völlig egal, welchen Beinamen die Krise gerade trägt. Angst macht lenkbar.

Ich höre Sätze wie: „Es sind halt schwierige Zeiten. Aber sie versuchen ja das Beste. Die haben es ja auch nicht leicht, so schwierige Entscheidungen zu treffen. Wir können im Moment selbst eh nichts ändern, deshalb bleibt uns nichts anderes übrig, als zu hoffen, und zu vertrauen.“


Aber, dass wir in einem kapitalistisch orientierten System leben, dessen Regierungen von Statistik und Finanzwirtschaft scheinbar viel mehr Ahnung haben, als von Ethik und Nächstenliebe, ist doch allen klar. Die Tatsache, dass die meisten technischen Errungenschaften, vor allem in der Waffenindustrie, und seit den letzten Jahrzehnten auch in der Informationstechnologie, unter anderem auch gegen den Menschen und seine Freiheit gerichtet werden, sollte uns jeden Tag achtsamer und kritischer durchs Leben gehen lassen. Natürlich gibt es auch einige Forscher und Politiker, die das Wohl des Menschen in den Vordergrund stellen, doch klemmen sie sich schnell die Finger ein, wollen sie mal am falschen Steuerungsrädchen drehen.


Für mich persönlich ist die stillschweigende Hinnahme dessen, was gerade auf und mit unserer schönen Erde passiert, keine Option mehr. Das Mindeste, was ich für mich entschieden habe, ist das Wahrnehmen von Gelegenheiten wie dieser, um damit Menschen zu erreichen, und kennenzulernen, die dasselbe Bedürfnis haben wie ich: Die Welt ein Stück weit harmonischer und friedvoller zu gestalten.


Um in unsere Kraft zu kommen, müssen wir uns mit der Quelle unseres Denkens und Handelns befassen. Es ist kein Geheimnis mehr, dass über neunzig Prozent unseres Denkens und Handelns aus dem Unterbewusstsein stammen, das auch das Resultat jahrelanger Konditionierung ist. Es wirkt wie ein Filter, der je nach gesellschaftlichen Anforderungen und durch Indoktrination in uns aktiviert wird. Man könnte es auch als eine Programmierung unserer Wahrnehmung, und damit Realität, bezeichnen. Gut möglich, dass dies übertrieben klingt.


Aber warum sonst sollten die meisten Gesellschaftsformen IHRE Art zu leben, IHRE Bräuche und IHRE Religion als normaler ansehen, als andere Formen, Bräuche und Religionen, und so unbewusst Grenzen schaffen? Warum sonst glauben wir, ständig über Dinge urteilen zu müssen, über alles und jeden eine Meinung haben zu müssen, die meistens nicht auf eine persönliche Erfahrung gestützt ist? Warum sonst sollen wir denken, dass ein System grenzenloses Wachstum generieren muss?


Die Natur lehrt uns doch das Gegenteil. Wenn wir genau hinschauen, lehrt sie uns, dass Werden und Vergehen unumgänglich ist, das Altern ein Teil des Lebens, und dass das Hier und Jetzt das einzige ist, was wirklich existiert.

Wie konnte es so weit kommen, dass wir unsere Aufmerksamkeit zu einem großen Teil dem Konstrukt der Zeit widmen, welches all die wundervollen Dinge, die der Augenblick für uns bereithält, verschwimmen lässt?

Wir sind abgestumpft, vom Verstand regiert. Dabei sagte schon Goethe, dass der Verstand ein guter Diener sei, aber ein schlechter Herr. Warum sehen wir nicht, dass das einzige was unsere Situation verändern kann, die Übergabe der Kontrolle an das Herz ist.

Wer würde all die Ungerechtigkeit, und die schrecklichen Kriege auch nur ansatzweise tolerieren, geschweige denn selbst in einen Krieg ziehen, wenn er ein offenes Herz hätte? Wer würde all die künstlich geschaffenen Grenzen akzeptieren, die uns von der transzendenten Wahrheit trennen, welche im Kern aller Religionen verankert ist, wenn ihm nicht irgendjemand sagen würde, was er zu denken und zu glauben hat?


In einem Film hörte ich mal zwei Sätze, die den grundlegenden Unterschied der Erziehung der ersten Lebensjahre, zwischen unseren westlich geprägten Gesellschaften und jener, alter Kulturvölker, verdeutlichen. Beachtet man zusätzlich, dass es Wissenschaftlern gelungen ist, die Existenz eines neuronalen Netzwerkes im Herzen nachzuweisen, gewinnen diese, folgende Sätze noch mehr an Tiefe.


„Die Naturvölker lernen über die Welt ihres Verstandes durch ihr Herz.

Wir lernen über unser Herz durch die Welt unseres Verstandes.“


Für mich heißt das, dass wir unsere Kinder viel zu früh ihrem Verstand ausliefern. Die Jahre vor der Schulzeit sollten der Entwicklung des Herzens gelten. Man sollte Kindern seine Anerkennung zeigen, wenn sie jemanden etwas Gutes tun, nicht wenn sie irgendwo schneller oder besser sind als Andere. Ich sage nicht, dass das nicht auch passiert, aber es scheint so, als ob sich ein Kind heutzutage möglichst schnell entwickeln muss, und die Altersgrenze, an der man es einer objektiven Beurteilung unterzieht, und damit in einen Wettbewerb zu anderen Kindern stellt, in den letzten Jahrzehnten rapide nach unten gegangen ist. Das Ergebnis, welches sich schon heute zeigt, ist mehr Kälte und weniger Herzlichkeit. Gut zu beobachten ist das an unserem Umgang mit älteren Menschen.


Wie kommen wir also von der Rationalität des Verstandes in unser Herz, um von dort mit Freude und Leichtigkeit, intuitiv, und zum Wohle Aller wirken zu können? Wir müssen uns dazu mit unserem Verstand und unserem Ego auseinandersetzen. Es gibt viele Bücher und Filme, die dieses Thema behandeln und uns auf den Weg zu uns selbst weiterbringen können. Deshalb nur ein paar kurze Gedanken dazu.


Es prasseln unentwegt Informationen auf uns ein. Zu viele, um sie alle verarbeiten zu können. Unser Verstand produziert Gedanken, zu den Themen, die uns täglich begegnen. Sie kreisen um unser Dasein, und es ist kaum möglich dies abzustellen. Man könnte sagen, wir denken nicht, sondern das Denken geschieht uns, wie es Eckhart Tolle so schön formuliert. Also besteht der erste Schritt, um in unsere Kraft zu kommen, darin, uns unserer Gedanken bewusst zu werden, und auch unsere Gefühle bewusst zu spüren. Wir müssen achtsam sein, und erkennen lernen, welche Gedanken konstruktiv und nützlich für uns sind, und welche destruktiv wirken, uns als Sorgen begegnen.

Wir haben nur das Hier und Jetzt. Also müssen wir uns fragen, was wir JETZT tun können, um unsere momentane Situation zu verbessern. Wenn es im Moment aber nichts gibt, was zu tun ist, dann können wir die Gegenwart genießen. So schaffen wir Raum, in dem wir zur Ruhe kommen können, uns zurückziehen. Je öfter man sich den Moment bewusst macht, desto mehr Raum und Klarheit erlangt man. Der Automatismus unserer Handlungen erhält so eine Kontrollfunktion. Und wenn man sich oft genug seiner Gedanken und Gefühle bewusst ist, kommt man in einen „stabilen Wachzustand“, der es einem ermöglicht, sein eigenes Ego, und auch das der anderen, zu erkennen. Man fängt an, die Einheit des Lebens zu spüren. Die Urteile und Meinungen, die uns unser Ego als Teil unserer Identität verkauft, verlieren an Bedeutung. So schaffen wir Platz für die Möglichkeit einer transzendenten Wahrheit.


Und wenn wir stark und mutig genug sind, diesen Weg weiter zu gehen, werden wir diese Kraft, die wir suchen, auch gewiss finden, und können sie aus einer Leichtigkeit heraus wirken lassen. Spielerisch entdecken wir unsere Kreativität wieder, erlangen all die bunten Farben zurück, an die wir uns kaum noch erinnern können, und beginnen die Welt so zu bemalen, dass sie uns allen gefällt, und niemand mehr wegsehen will. Wir fangen wieder an zu spüren, was das Leben von uns will, geben uns dem hin und werden uns wieder der Fülle bewusst, die das Leben für uns bereithält.


Zum Schluss möchte ich noch zwei Weisheiten miteinander in Verbindung bringen. Eine bekannte Weisheit ist: „Man kann Probleme nicht auf der Ebene lösen, auf der sie entstanden sind.“

Die andere lautet: „Sei du die Veränderung, die du dir wünschst für die Welt.“


Erst wenn wir uns als Teil des Problems erkennen, und uns auf der Ebene selbst begegnen, auf der wir es auch lösen können, können wir die Veränderung sein, die wir uns wünschen für die Welt. Alles andere ist meiner Meinung nach eine Symptomlinderung, die zwar kurzzeitig nach Heilung aussehen kann, aber die Krankheit an sich nicht besiegt. Deshalb müssen wir bei uns selbst anfangen.


Ich hoffe, mit dem Artikel Anregung zum Nachdenken gegeben zu haben, und freue mich über an Dialog interessierter Kritik jeglicher Art.


Herzliche Grüße, Thorsten Buchacher

  • 28. Juli 2020
  • 3 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 29. Juli 2020

Ein Erlebnis von Wolf-Dieter Musmann


Bild: pixabay.com

Arzttermin um 9 Uhr. Er ist wichtig für Anna. „Bitte kommen Sie eine halbe Stunde früher. Wir haben zurzeit viel Betrieb.“ Die Sprechstundenhilfe legt auf. Eilig packen wir unsere Sachen, um nicht zu spät zu kommen. Wir haben es geschafft. Um 8.30 Uhr stehen wir an der Pforte der Klinik. „Sind Sie angemeldet? Begleitpersonen dürfen nicht mit. Mundschutz ist vorgeschrieben. Meyer, Anna? Ja, Sie sind angemeldet. Gut, ja. Gehen Sie hinauf und melden sich an der Aufnahme der Ambulanz an. Sie bekommen ein Handy, das Sie aufruft, wenn Sie dran sind.“ Ein Wartesaal. 12 Personen, jeweils zwei Meter Abstand. Alle schauen auf ihr Handy. Es ist ein internes Handy. Mein Smartphone hat keinen Empfang. WLAN ist nur für stationare Patienten. Was tun? Keine Zeitschriften. Alle Nachbarn hinter einem Mundschutz versteckt. Keiner sagt ein Wort. Sogar Anna, die Gesprachige, ist still. Was wird der Arzt sagen? Ist es Krebs? Ist es harmlos? Es ging ihr nicht gut. Die Blutwerte. Was das wohl anzeigt? Der Hausarzt war verdächtig einsilbig. Sein Kollege sagte: „Da müssen Sie doch was tun!“ Warten. Alle warten. Alle zehn Minuten, oder auch zwanzig Minuten, hört man eines der Handys. „Bitte gehen Sie in Raum 2 zur Blutentnahme!“ Nach einiger Zeit kommen sie zurück. Warten. Alle sind still – schauen sich schweigend an. Annas Handy tönt: „Bitte gehen Sie in Raum 2 zur Blutentnahme.“ Sie geht sofort. Ich frage mich: „Wieso schon wieder Blutentnahme? Wir sollten doch nur zu einem Abschlussgespräch. Was denken sich die Arzte? Braucht es etwa keinen Grund zur Blutentnahme. Was machen sie nur mit dem vielen Blut? Ist das vielleicht nur Routine? Sicher dauert es jetzt eine Stunde, bis die Ergebnisse da sind. Warten. Alle warten. Schweigend. „Bitte in Raum 2 zur Blutentnahme!“ Einer darf jetzt sogar in Raum 12. Wir warten schon anderthalb Stunden. Was machen die da? Weit und breit kein Arzt. Gelegentlich geht eine Pflegerin vorbei. Am Aufnahmeschalter geschieht nichts. Die Damen sind mal da, mal weg. Alle halbe Stunde ist ein Patient am Schalter. Was geschieht hier? Was machen die mit uns? Konnen die so mit uns umgehen, ohne uns eine Begründung mitzuteilen? Eigentlich erniedrigend. Wir sind ja die Patienten. Die Geduldigen. Aber warum bin ich so ungeduldig? Was entgeht mir denn? Ich schaue auf Anna. Sie schaut zurück. Sie ist völlig ruhig und gefasst. Warum wird sie nicht ungeduldig? Ist Geduld eine Tugend und Ungeduld eine Untugend? Wie machen das die Asiaten und Orientalen? Stunden und Tage verharren sie im Warten. Wir Abendlander schimpfen das Fatalismus. Haben die keinen Stolz, keine anderen Ziele als zu sitzen und zu warten? Ist das Leben im Augenblick? Eine Operettenmelodie fallt mir ein: „Glücklich ist, wer vergisst, was doch nicht zu ändern ist.“ Ich fange an, leise zu schimpfen. Anna sieht meine Ungeduld. „Was ärgerst du dich? Wir versäumen doch nichts.“ Zwei Stunden sind rum. Meine innere Spannung hat sich zu einem Ingrimm gesteigert. Morgen werde ich mich bei der Klinikleitung beschweren. Ich gehe zum Schalter. „Der Doktor ist gerade gekommen. Jetzt wird es nicht mehr lang dauern. Warten Sie!“ Ich gehe zurück ins Wartezimmer. Resigniere ich jetzt? Nein. Jetzt nehme ich mir bewusst vor, positiv zu denken. Ich denke, ich versäume nichts. Ärzte und Pfleger sind sicher so belastet, dass sie weder schneller machen konnen, noch die Patienten über die Verzogerung informieren. Es ist einfach unmoglich. Ich will warten. Vielleicht im Sitzen schlafen? Zweidreiviertel Stunden später. Das Wartezimmer ist leer. Nur noch wir sind hier. Ein Aufruf im Handy: „Bitte kommen Sie in Zimmer 11.“ Erleichtert stehen wir auf. Wir gehen durch mehrere Gänge und öffnen das Sprechzimmer. Der junge Arzt lächelt freundlich. Bedauernd sagt er: „Tut mir Leid, dass es so lang gedauert hat. Es war wieder sehr turbulent heute.“

Er spricht sehr gefasst und klar und beleuchtet die Situation. Aber ein Ergebnis gibt es noch nicht. Die Blutwerte lassen noch kein eindeutiges Ergebnis zu. Wir sollen in drei Wochen wiederkommen. Anna sagt draußen: „Siehst du! Er hat sich sogar entschuldigt.“ Ich nicke: „Das machen nur wenige Arzte.“ Und denke: „Ist Ungeduld eine Ich-Schwäche, oder eine Kraft, die zur Veränderung drängt?“ Annas durchweg positive Denkweise hat ihr wohl die Kraft gegeben, ruhig zu bleiben. Aber sie hat auch nichts verändert. Naja, vielleicht ein wenig in mir. Beschwerde habe ich keine geschrieben.

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