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  • 8. März 2021
  • 5 Min. Lesezeit

Anschließend an den Artikel Schule gemeinsam gestalten, der am 21.10.2020 bereits auf Keime für die Zukunft veröffentlicht wurde, fühlte sich unser Redakteur Wolf-Dieter Musmann berufen, eine schriftliche Antwort an Frau Fathy, welche im saarländischen Bildungsministerium arbeitet, zu verfassen. Die grundsätzliche Idee dieses Dialoges ist die Anregung zum Austausch zwischen dem öffentlichen Bildungssystem und der Waldorfpädagogik. Text: Wolf-Dieter Musmann

Bild: pixabay.com


Liebe Frau Fathy,


als ich Ihren Artikel auf der Keime-Webseite gelesen habe, ist mir zunächst die fett gedruckte Vorrede aufgefallen, die aus Ihrer ersten Veröffentlichung zitiert wurde. Hier fragen Sie, ob es nicht an der Zeit sei, dass die Waldorfpädagogik sich öffnet, Verantwortung übernimmt und sich in einen konstruktiven Austausch mit denen begibt, die öffentliche Verantwortung tragen.


Hier frage ich Sie: Kann man wirklich sagen, dass die Menschen, die Waldorfschulen gegründet, betrieben und besucht haben nicht genug Verantwortung übernommen haben? Kann man sicher und begründet sagen, dass die Waldorfschulen nicht den Dialog mit den anderen Pädagogiken gesucht hätten? Es ist sicher nicht schwer, mit Ihnen einen solchen Dialog zu führen, aber ist das in der Breite die Regel?


Dass die Waldorfschulen, wie Sie sagen, eher zurückgezogen und misstrauisch oder unsicher erscheinen, hat eine lange Geschichte. Allerdings ist diese Geschichte nicht allein die Geschichte zwischen Schulverwaltungen und der organisierten Waldorfbewegung - vielmehr zeigt sie eine Entwicklung des Bewusstseins der Menschen in Deutschland, Europa und der westlichen Welt.


Eine erste große Erweiterung der Waldorfschulbewegung geschah in den 70er- und 80erJahrendurch viele Neugründungen in ganz Europa. Es waren Eltern, die für ihre Kinder eine Alternative suchten und die in der Überzeugung, hier eine Möglichkeit gefunden zu haben, große Opfer brachten, Risiken eingingen und sich oft sogar vom Mainstream isolieren mussten. Sie wurden verlacht und als exotische Spinner betrachtet, obwohl sie Dinge ernsthaft verwirklichen wollten, die ja seit 1949 im Grundgesetz stehen. Die meisten sahen im staatlichen Schulwesen die einzige solide und risikofreie Wahl für ihre Kinder.


Erst seit dieser Zeit wird die Waldorfschule ernsthaft bemerkt, sowohl in den staatlichen Schulverwaltungen, wie auch bei anderen Privatschulen und an den Universitäten. Und auch angegriffen.


Ich selbst habe sechs Jahre an Grund- und Hauptschulen sowie Sonderschulen gearbeitet. Als ich dann eine Examensarbeit über die Integration Behinderter in den Waldorfschulen schrieb und in meiner Sonderpädagogischen Abschlussprüfung vertrat, wurde ich von dem prüfenden Professor vertraulich gefragt, ob ich denn wüsste, dass die Waldorfpädagogik eine ganz und gar esoterische Angelegenheit sei. („esoterisch“ war und ist an den meisten Universitäten ein Schimpfwort).


Was Herrn Wember betrifft, so haben Sie Recht, dass sein Urteil pauschal ist. Es ist fundamentalistisch aus dem Bewusstsein des letzten Zieles, das Rudolf Steiner angegeben hat: Ein voneinander unabhängiges Existieren von Staat, Wirtschaft und Kultur – die sogenannte Dreigliederung des Sozialen Organismus.


Das staatliche Schulwesen ist entstanden aus dem Bewusstsein, dass eine kultivierte Gesellschaft, ob Monarchie oder Demokratie gebildete, fähige und verantwortungsvolle Menschen als Basis braucht. Dazu wurde in vielen Ländern die allgemeine Schulpflicht eingeführt, die mit Staatsmacht durchgesetzt wird. Daraus ist in vielen Fällen, aber nicht mit Notwendigkeit, das ministerielle Schulwesen hervorgegangen. Es bietet Sicherheit und Ordnung im Bildungswesen. Aber es besteht immer auch die Gefahr, das wechselnde politische Machtverhältnisse die Bildung manipulieren.


Unser Grundgesetz garantiert daneben auch die Existenz freier, staatsunabhängiger Schulen. Die Gründe, die die Väter des Grundgesetzes hatten, sind mir nicht geläufig, doch ich verstehe sehr wohl, dass dadurch von Politik unabhängige Entwicklungen im Bildungswesen möglich werden.


Rudolf Steiner und Valentin Wember gehen aber noch weiter: Freie Schulen, das heißt solche, die unabhängig vom Saat sind, sollten die Regel sein, der Staat sollte die fehlenden Einrichtungen abdecken, zum Beipsiel durch die Unterstützung freier Initiativen. Dazu hat in den 80er Jahren Stefan Leber vom Bund der Freien Waldorfschulen eine neue Idee entwickelt, die durch einen sogenannten Bildungsgutschein die Finanzierung durch den Staat sicher stellen sollte. Die Idee einer sofortigen Befreiung des Schulwesens hat aber vorerst Grenzen in der Realität.


Ein einfaches Gedankenexperiment, entsprechend Ihrer Überlegung zur Einführung von Waldorfpädagogik im Staatsschulwesen, kann Grenzen anzeigen: Würden jetzt mit einem Schlag alle Schulen frei, bzw. privatisiert, könnte sich ein richtiges Chaos entwickeln.


• Die an den Schulen tätigen Beamten würden mit einem Mal ihren hoheitlichen Status und damit ihre Lebenssicherheit verlieren.


• Wirtschaftsinteressen würden sofort und mit Macht zugreifen, denn die Finanzierung müsste völlig neu geregelt werden.


• Jede einzelne Schule mit ihren Lehrern und Eltern müssten die Erziehungsziele und die gesamte Schulorganisation neu vereinbaren.


• Es gäbe zu wenig Menschen, die die private Gründung von Schulen tragen wollten, natürlich unter der Rechtsaufsicht des Staates.


Es scheint mir nach meinen Erfahrungen mit Schulgründungen, dass die meisten Menschen dazu noch nicht bereit und noch nicht reif wären. Auch ich, der ja nur staatliche Bildungseinrichtungen durchlaufen hatte, war noch nicht reif dazu. Ich habe es versucht. Diese Reife ist jedoch das Ziel der Befreiung des Kulturwesens. Jeder soll als geistiger Mensch tätig sein und diese Freiheit, welche ja die einzige wirkliche Freiheit ist, auch verteidigen.


Es scheint mir aber eher so, dass die Menschen beim Staat Sicherheit suchen: Rechtssicherheit, gerechte Prüfungen, Lebensstatus durch staatliche Prüfungen, Entscheidungsinstanz bei konfliktträchtigen Fragen oder durch Vorschriften. Die Folgen des Experiments könnten zunächst ein starker Rückgang des inneren Friedens und des Bildungsniveaus sein.


Dagegen ist die Waldorfschule seit 100 Jahren angetreten, die Schüler zu dieser Freiheit zu befähigen, dass sie nicht in erster Linie Sicherheit, sondern freie Entfaltung ihrer Kräfte suchen. Gelingt das, so werden sie es an ihre Kinder und deren Umfeld weitergeben, und in vielen Generationen kann sich eine Befreiung vollziehen, die auch ein freies Kulturleben ermöglicht. Innere Freiheit und ein freier Austausch von Erkenntnissen und Impulsen sind die Grundlagen geistiger Entwicklung. Vorschriften und Gesetze schränken diese Entwicklung ein (vielleicht manchmal sogar notwendig).


Aus meinem Erfahrungen, die ich im mehreren Jahren in Schulleiterkonferenzen machen durfte, weiß ich, wie auf dieser Ebene und innerhalb von Ministerien um den richtigen Weg gerungen wird. Der gefundene Weg führt zu Entscheidungen, die dann für viele Schulen und Eltern in Form von Vorschriften verbindlich gemacht werden.


Hoffentlich nicht für Waldorfschulen. Denn es muss möglich sein, dass viele Wege gegangen und ausprobiert werden: Pädagogisch, sozial und wirtschaftlich. Vielleicht war das eine der Ideen des Grundgesetzes.


Und wenn auf diesem Weg neues ausprobiert wurde und wenn es für gut befunden wurde, dann kann es jeder sehen und in seine Wege einbeziehen, wie es ja auch ohne Kontakt mit der Waldorfschule geschehen ist. Im direkten Gespräch könnte es eher um grundlegende Werte und ihre Abwägungen gehen und wie die Begriffe von diesen Werten sich in der Praxis zeigen.


Die Waldorfschulen sind faktisch sehr verschieden. Die Wertentscheidungen wurden zwischen Eltern und Lehrern ausgehandelt und an den freien Persönlichkeiten der Schüler erprobt. Darüber sollte ein Gespräch zwischen kompetenten Menschen möglich sein.


W.-D. Musmann


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Der Text von Frau Andrea Fathy war eine Antwort auf den Artikel von Valentin Wember in der Anthroposophie, der Vierteljahresschrift zur anthroposophischen Arbeit in Deutschland Nr. 291 mit dem Titel Warum freies Geistesleben.


  • 12. Jan. 2021
  • 3 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 21. Feb. 2021

„Corona!? Da mach ich nicht mit.“ Das verkündete vor einigen Wochen ein circa 10-jähriger Junge hinter meinem Rücken. Die Frage, ob der nun als Corona-Leugner zu diffamieren sei, stellte ich mir nicht. Viel mehr interessierte mich der in dieser Aussage lebende Gedanke, dass „Corona“ viel mehr als nur die Krankheit mit SARS-CoV-2 sei. von Axel Stirn

Foto: Wikipedia, Meininger Staatstheater

„Corona“ als ein neuer Trend, eine neue Kultur, eine Haltung oder gar Entscheidung, eben ein alles umfassendes Lebens...dings? Dem Schüler nach, so erschien es mir, hätten wir alle eine Wahl, bei „Corona“ mitzumachen. Für philosophische Gespräche taugt dieser Ansatz allemal. Außer Frage steht, dass viele Lebensrealitäten verändert werden, ohne dass Menschen sich selbst dafür entschieden hatten.

Da im Kreis der Redaktion das medizinische Wissen nur ausreicht, um spannende Diskussionen zu befeuern, zoomen wir zurzeit auf die gesellschaftlichen und persönlichen Auswirkungen der „Corona-Maßnahmen“, die wir alle erleben und untersuchen können. Wir fokussieren auf die Kultur, die mit Fridays For Future und durch Corona am Pranger steht, weil sie keine lebenswerte Zukunft verheißt. Wir beleuchten den Berufszweig der Künstlerinnen und Künstler, die sich jenseits der Grenzen der „Systemrelevanz" befinden und derzeit unter großem wirtschaftlichem Druck stehen. Gleichzeitig greifen wir die Frage nach einem völlig neuen Verständnis des Kunst- und Kulturbegriffs auf, um die Gedanken für neue Wege für des gesellschaftlichen Miteinanders durch „Kunst“ zu öffnen.

Wir sehen den Menschen nicht als Biomechanismus, der in seinem Leben nur die Triebbefriedigung und Krankheitsvermeidung für erstrebenswert hält. Unser physischer Leib mag ja, sehr eng interpretiert, noch darauf zu reduzieren sein. Aber Seele und Geist des Menschen verschwinden nicht, nur weil man nicht mehr daran glaubt. Selbst die intensivste Einbildung, der Mensch sei ein Tier, schafft Seele und Geist nicht ab, sondern drückt ihnen lediglich diese begrenzte Sichtweise auf.

Das Universum, Mutter Erde und individuelle Kräfte haben dem Menschen einen Körper erschaffen, in dem er mit Seele lebt, mit der er Musik erzeugen und hören kann, Kunst schaffen und wahrnehmen kann, mit der er Theater spielen, tanzen, tonen, tätowieren und träumen kann. In der Seele webt ein Geist, der frei sein will und seine eigenen Gedanken hat. Der Erkenntnisdrang lässt den Menschen Wissenschaft und Religionen gestalten lässt.

Wir nennen das alles, banal gesagt „Kultur“. Diese "Kultur" reicht vom Uff-ta-ta Stampfen auf dem Oktoberfestbiertisch bis zu internationalen Orgel-Konzerten, von Architektur zu Zumbakursen, von Wissenschaftsdogmen bis zu religiösen Gottesbeweisen. Die Redaktion plädiert für mehr Bewusstsein für das eigene Tun. Und wir wollen geistreiche Kunst, die, wie es in Meiningen am Theater in Stein gemeißelt steht, „Dem Volke zur Freude und Erhebung“ dient. (Siehe obiges Foto.)

Wer stellt sich überhaupt die Frage, ob etwas Kunst sei? Wir plädieren für die Sichtweise: Alles von und durch Menschen Geschaffene ist Kunst. Und jeder Mensch ist ein Künstler. Die

entscheidende Frage ist, ob es erhebende, von Herzkräften gespeiste Kunst ist, die jemand erschafft oder ob sie Ausdruck eines berechnenden, auf Nützlichkeit beschränkten Geistes ist.

Hier sei Steiner in einem Brief vom 25. November 1905 an Marie von Sivers zitiert: „Denn einer Zeit, die keine Formen schauen und schauend schaffen kann, muss notwendigerweise der Geist zum wesenlosen Abstraktum sich verflüchtigen und die Wirklichkeit muss sich diesem bloß abstrakten Geist als geistlose Stoffaggreationen gegenüberstellen. Bevor der Mensch nicht ahnt, dass Geister im Feuer, in Luft, Wasser und Erde leben, wird er auch keine Kunst haben, welche diese Weisheiten in äußerer Form wiedergibt. Dies sollte unser Ideal sein: Formen zu schaffen als Ausdruck des inneren Lebens.“

Die Redaktion sieht die Tendenz, eine menschenfeindliche Kultur zu erschaffen, die dann nicht mehr Kultur genannt werden dürfte, sondern Kaltur, weil die Seelenwärme darin fehlte.

Da gegenwärtig der Aufruf zur Anpassung des Menschen an das System verstärkt ertönt, rufen wir zur Anpassung des Systems ... Nein! So leicht machen wir es uns nicht. Wir rufen zu nichts auf. Wir rücken mit unseren Beiträgen Menschen und ihre Kunst ins Licht, deren Arbeiten von den Corona-Auswirkungen stark eingeschränkt werden, deren lebendige Seele aber mit Herzenswärme die Welt gestalten will. Wir laden Sie dazu ein, das Geistig-Seelische des Menschen ins Bewusstsein zu holen. Und was eignet sich dafür besser als unser aller Kunst.

  • 21. Okt. 2020
  • 5 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 8. März 2021

Anregung zum Austausch zwischen dem öffentlichen Bildungssystem und der Waldorfpädagogik

Bild: pixabay.com


Die Redaktion von „Keime für die Zukunft“ unterstützt mit dieser Veröffentlichung eine Diskussion, die auf einer Initiative aus unserer Region fußt, aber über unsere Grenzen hinaus reicht. Der folgende Beitrag ist von Frau Andrea Fathy, die im Saarländischen Bildungsministerium an ministeriellen Prozessen mitarbeitet.


Ihr Text ist eine Antwort auf einen Artikel von Valentin Wember in der Anthroposophie, der Vierteljahresschrift zur anthroposophischen Arbeit in Deutschland Nr. 291 mit dem Titel Warum freies Geistesleben.


Valentin Wember führt darin aus, dass das staatliche Schulsystem, so wie er es versteht, gegen die Menschenwürde der Kinder verstoße, da es sich an den Vorgaben der Wirtschaft orientiere und Kinder als Mittel zu diesem Zweck behandele. Er entwickelt daraus die Schlussfolgerung, dass immer mehr Menschen einsehen müssten, dass es keine gute Idee sei, wenn Staat und Politik das Bildungssystem steuerten.

Frau Andrea Fathy las diesen Artikel, nahm diese alte Diskussion der beiden Schulformen wieder auf und verfasste ihre Sichtweise, diesmal aus der Perspektive des öffentlichen Schulsystems in gleichzeitig tiefer Verbundenheit zur Waldorfpädagogik. Ihr Beitrag erschien bereits in der Johanniausgabe der Anthroposophie als Leserzuschrift. Sie fragt:


Ist es nicht möglich und an der Zeit, dass die Waldorfpädagogik sich öffnet, Verantwortung übernimmt und sich in einen konstruktiven Austausch mit denjenigen begibt, die im öffentlichen Schulsystem Verantwortung tragen und die in öffentlichen Schulen tätig sind?


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Sehr geehrte Damen und Herren,

Zu dem oben genannten Artikel [von Herrn Valentin Wember] möchte ich mir erlauben einige Anmerkungen zu machen bzw. Fragen zu stellen, die mich beim Lesen stark bewegt haben.

Ich selbst bin seit über 30 Jahren stark mit der Anthroposophie, der Waldorfpädagogik und auch mit den Waldorfschulen im Saarland persönlich verbunden. Seit 8 Jahren arbeite ich im saarländischen Bildungsministerium im Förderschulreferat und bin als „Landesfachberaterin für sonderpädagogische Unterstützung an Gemeinschaftsschulen“ damit betraut für Schülerinnen und Schüler, die eine besondere pädagogische Förderung brauchen, geeignete Schulplätze zu finden bzw. Schulen beim Umgang mit diesen Schülerinnen und Schülern und bei deren Unterrichtung zu beraten.


In diesem Zusammenhang bin ich auch in ministerielle Prozesse einbezogen, wenn es z. B. um Leistungsbewertung1, Regelungen der Versetzung, Gestaltung von Zeugnissen geht. So konnte ich in den vergangenen Jahren miterleben, wie die Kollegen im Ministerium (überwiegend erfahrene Lehrerinnen und Lehrer) darum gerungen haben die rechtlichen Grundlagen zu erarbeiten, die es ermöglichen für Schülerinnen und Schüler eine Schule zu schaffen, in der sie ihre Persönlichkeit entwickeln und entfalten können, in der ihre individuellen Bedürfnisse und Fähigkeiten berücksichtigt werden und in denen Lehrerinnen und Lehrer größtmöglichen Freiraum erhalten um in diesem Sinnen zu unterrichten. Konkret bedeutet dies, dass Noten in der Grundschule bis Klasse 3 ausgesetzt werden und Verbalzeugnisse gegeben werden 2.


In den Gemeinschaftsschulen erfolgt bis zur Klasse 8 eine Regelversetzung. Auch können Verbalzeugnisse zusätzlich zu den Notenzeugnissen gegeben werden. Zudem bietet die Gemeinschaftsschulverordnung 3, was die Ausgestaltung der Stundentafel betrifft, größtmögliche Gestaltungspielräume für jede Schule, so dass z.B. Epochenunterricht möglich ist und auch inhaltlich Raum für künstlerische Aktivitäten, Gartenbau, Theaterspiel... besteht.


Für Kinder mit besonderem Förderbedarf sind im Rahmen der Inklusionsverordnung 4 regelmäßige Kinderbesprechungen in Form von Klassenkonferenzen bzw. „Runden Tischen“ mit allen am Erziehungs- und Förderungsprozess des Kindes Beteiligten vorgesehen und werden auch durchgeführt. Von der Qualität und der Wirksamkeit dieser Maßnahme konnte ich mich selbst schon häufig überzeugen.

Vor diesem Hintergrund erscheint mir das Urteil von Herrn Wember am staatlichen Schulsystem als sehr pauschal und wenig differenziert. Unbestritten stand der Impuls das öffentliche Schulsystem staatlich zu kontrollieren im Zusammenhang mit staatlichen Interessen. Es ist aber offensichtlich auch im staatlichen Interesse, dass es Waldorfschulen gibt. Denn zumindest in Deutschland räumen die Privatschulgesetze der Bundesländer den Waldorfschulen einen erheblichen Freiraum ein und übernehmen auch einen wesentlichen Teil der Kosten und sichern damit deren materielle Existenz.

Wenn ich nun den Artikel von Herrn Wember so lese, dass das staatliche Schulsystem gegen die Würde des Menschen verstößt, lese ich aber auch heraus, dass es den Waldorfschulen gelingt diese Würde zu achten durch ihre Organisationsform (selbstverwaltet) und ihren Unterrichtsansatz, bei dem die Achtung der Individualität des Einzelnen im Vordergrund steht.

Nun ist es aber nur ein Bruchteil der Schülerschaft in der Bundesrepublik, die eine Waldorfschule besucht. Was ist mit der Würde all der anderen Schülerinnen und Schüler? Herr Wember zieht beispielhaft immer wieder die zukünftigen Ingenieure und Techniker heran um derentwillen das Schulsystem sich so gestalte wie es ist.


Gerade aber für die Schülerinnen und Schüler der Grundschulen, Förderschulen und Gemeinschaftsschulen geht es um ganz andere, existenzielle Fragen: wie kann Schule deren individuelle Entwicklung fördern? Was brauchen die Schülerinnen und Schüler von ihrer Schule um ein gesundes Selbstwertgefühl zu entwickeln?


Um diese Fragen wird auch in den öffentlichen Schulen und im Bildungsministerium gerungen. Die oben beschriebenen Ansätze (Verbalzeugnisse, Kinderbesprechung, Regelversetzung…) sind aus diesem Ringen entstanden, ohne dass es einen unmittelbaren Kontakt zur Waldorfpädagogik gab. Mein Eindruck ist, dass sich öffentliches Schulsystem und Waldorfpädagogik den gleichen Fragen aus unterschiedlichen Richtungen nähern und zu ähnlichen Lösungen kommen.

Mir stellt sich immer wieder die Frage, weshalb es nicht zu einem konstruktiven Austausch zwischen der Waldorfpädagogik und dem öffentlichen Schulsystem kommt. Aus meiner Perspektive halte ich das für möglich. Die Waldorfschulen erlebe ich in diesem Punkt als eher zurückgezogen, vielleicht misstrauisch oder unsicher. Ich habe den Eindruck, dass es auch ein elementares Kommunikationsproblem gibt, das damit zu tun hat, dass die beiden Systeme zu wenig übereinander wissen.


Herr Wember hält die Befreiung des Geisteslebens und insbesondere des Bildungssystems für die mit Abstand wichtigste Voraussetzung für eine Gesundung der Gesellschaft. Dem stimme ich voll zu. Aber wie soll sich eine Befreiung vollziehen, wenn der mutmaßliche Befreier sich nicht mit dem vorhandenen Bildungssystem auf Augenhöhe auseinander setzt?


Es geht dabei nicht darum öffentliche Schulen zu Waldorfschulen zu machen. Dazu würde es allein schon an entsprechend ausgebildeten Lehrern fehlen. Wobei die Lehrerbildung ein weiterer Punkt ist, bei dem ein Austausch zwischen Waldorfpädagogik und staatlicher Lehrerausbildung für beide Seiten fruchtbar sein könnte.

Wenn es den Vertretern der Waldorfpädagogik um die Würde aller Schülerinnen und Schülern geht, dann sollte es ihnen ein Anliegen sein sich mit dem öffentlichen Schulsystem differenziert und unmittelbar auseinander zu setzen und die Ansatzpunkte zu finden und zu schaffen, an denen konkret ein gegenseitiger befruchtender Austausch entsteht im Interesse und im Respekt und der Achtung vor ALLEN Schülerinnen und Schülern.

Ich würde mich über jede Form der Rückmeldung zu dieser Frage freuen. Vielleicht gibt es ja bereits Kooperationen, Kontakte, Austausch in der von mir beschriebenen Weise.


Andrea Fathy


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Sowohl Frau Fathy, als auch die Redaktion der Keime für die Zukunft sind bereit, Begegnungen für einen zeitgemäßen Austausch zu unterstützen, deren Grundfrage lauten könnte:


Wie kann das Schulsystem im Rahmen seiner rechtlichen Möglichkeiten und Freiheiten sich so weiterentwickeln, dass es eine angemessene Antwort auf die Erfordernisse und Bedürfnisse ALLER Schülerinnen und Schüler in der heutigen Zeit gibt?


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In seinem Antwortschreiben an Frau Andrea Fathy nimmt Wolf-Dieter Musmann Stellung zur Thematik. Hier weiterlesen.

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