Anschließend an den Artikel Schule gemeinsam gestalten, der am 21.10.2020 bereits auf Keime für die Zukunft veröffentlicht wurde, fühlte sich unser Redakteur Wolf-Dieter Musmann berufen, eine schriftliche Antwort an Frau Fathy, welche im saarländischen Bildungsministerium arbeitet, zu verfassen. Die grundsätzliche Idee dieses Dialoges ist die Anregung zum Austausch zwischen dem öffentlichen Bildungssystem und der Waldorfpädagogik. Text: Wolf-Dieter Musmann
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Liebe Frau Fathy,
als ich Ihren Artikel auf der Keime-Webseite gelesen habe, ist mir zunächst die fett gedruckte Vorrede aufgefallen, die aus Ihrer ersten Veröffentlichung zitiert wurde. Hier fragen Sie, ob es nicht an der Zeit sei, dass die Waldorfpädagogik sich öffnet, Verantwortung übernimmt und sich in einen konstruktiven Austausch mit denen begibt, die öffentliche Verantwortung tragen.
Hier frage ich Sie: Kann man wirklich sagen, dass die Menschen, die Waldorfschulen gegründet, betrieben und besucht haben nicht genug Verantwortung übernommen haben? Kann man sicher und begründet sagen, dass die Waldorfschulen nicht den Dialog mit den anderen Pädagogiken gesucht hätten? Es ist sicher nicht schwer, mit Ihnen einen solchen Dialog zu führen, aber ist das in der Breite die Regel?
Dass die Waldorfschulen, wie Sie sagen, eher zurückgezogen und misstrauisch oder unsicher erscheinen, hat eine lange Geschichte. Allerdings ist diese Geschichte nicht allein die Geschichte zwischen Schulverwaltungen und der organisierten Waldorfbewegung - vielmehr zeigt sie eine Entwicklung des Bewusstseins der Menschen in Deutschland, Europa und der westlichen Welt.
Eine erste große Erweiterung der Waldorfschulbewegung geschah in den 70er- und 80erJahrendurch viele Neugründungen in ganz Europa. Es waren Eltern, die für ihre Kinder eine Alternative suchten und die in der Überzeugung, hier eine Möglichkeit gefunden zu haben, große Opfer brachten, Risiken eingingen und sich oft sogar vom Mainstream isolieren mussten. Sie wurden verlacht und als exotische Spinner betrachtet, obwohl sie Dinge ernsthaft verwirklichen wollten, die ja seit 1949 im Grundgesetz stehen. Die meisten sahen im staatlichen Schulwesen die einzige solide und risikofreie Wahl für ihre Kinder.
Erst seit dieser Zeit wird die Waldorfschule ernsthaft bemerkt, sowohl in den staatlichen Schulverwaltungen, wie auch bei anderen Privatschulen und an den Universitäten. Und auch angegriffen.
Ich selbst habe sechs Jahre an Grund- und Hauptschulen sowie Sonderschulen gearbeitet. Als ich dann eine Examensarbeit über die Integration Behinderter in den Waldorfschulen schrieb und in meiner Sonderpädagogischen Abschlussprüfung vertrat, wurde ich von dem prüfenden Professor vertraulich gefragt, ob ich denn wüsste, dass die Waldorfpädagogik eine ganz und gar esoterische Angelegenheit sei. („esoterisch“ war und ist an den meisten Universitäten ein Schimpfwort).
Was Herrn Wember betrifft, so haben Sie Recht, dass sein Urteil pauschal ist. Es ist fundamentalistisch aus dem Bewusstsein des letzten Zieles, das Rudolf Steiner angegeben hat: Ein voneinander unabhängiges Existieren von Staat, Wirtschaft und Kultur – die sogenannte Dreigliederung des Sozialen Organismus.
Das staatliche Schulwesen ist entstanden aus dem Bewusstsein, dass eine kultivierte Gesellschaft, ob Monarchie oder Demokratie gebildete, fähige und verantwortungsvolle Menschen als Basis braucht. Dazu wurde in vielen Ländern die allgemeine Schulpflicht eingeführt, die mit Staatsmacht durchgesetzt wird. Daraus ist in vielen Fällen, aber nicht mit Notwendigkeit, das ministerielle Schulwesen hervorgegangen. Es bietet Sicherheit und Ordnung im Bildungswesen. Aber es besteht immer auch die Gefahr, das wechselnde politische Machtverhältnisse die Bildung manipulieren.
Unser Grundgesetz garantiert daneben auch die Existenz freier, staatsunabhängiger Schulen. Die Gründe, die die Väter des Grundgesetzes hatten, sind mir nicht geläufig, doch ich verstehe sehr wohl, dass dadurch von Politik unabhängige Entwicklungen im Bildungswesen möglich werden.
Rudolf Steiner und Valentin Wember gehen aber noch weiter: Freie Schulen, das heißt solche, die unabhängig vom Saat sind, sollten die Regel sein, der Staat sollte die fehlenden Einrichtungen abdecken, zum Beipsiel durch die Unterstützung freier Initiativen. Dazu hat in den 80er Jahren Stefan Leber vom Bund der Freien Waldorfschulen eine neue Idee entwickelt, die durch einen sogenannten Bildungsgutschein die Finanzierung durch den Staat sicher stellen sollte. Die Idee einer sofortigen Befreiung des Schulwesens hat aber vorerst Grenzen in der Realität.
Ein einfaches Gedankenexperiment, entsprechend Ihrer Überlegung zur Einführung von Waldorfpädagogik im Staatsschulwesen, kann Grenzen anzeigen: Würden jetzt mit einem Schlag alle Schulen frei, bzw. privatisiert, könnte sich ein richtiges Chaos entwickeln.
• Die an den Schulen tätigen Beamten würden mit einem Mal ihren hoheitlichen Status und damit ihre Lebenssicherheit verlieren.
• Wirtschaftsinteressen würden sofort und mit Macht zugreifen, denn die Finanzierung müsste völlig neu geregelt werden.
• Jede einzelne Schule mit ihren Lehrern und Eltern müssten die Erziehungsziele und die gesamte Schulorganisation neu vereinbaren.
• Es gäbe zu wenig Menschen, die die private Gründung von Schulen tragen wollten, natürlich unter der Rechtsaufsicht des Staates.
Es scheint mir nach meinen Erfahrungen mit Schulgründungen, dass die meisten Menschen dazu noch nicht bereit und noch nicht reif wären. Auch ich, der ja nur staatliche Bildungseinrichtungen durchlaufen hatte, war noch nicht reif dazu. Ich habe es versucht. Diese Reife ist jedoch das Ziel der Befreiung des Kulturwesens. Jeder soll als geistiger Mensch tätig sein und diese Freiheit, welche ja die einzige wirkliche Freiheit ist, auch verteidigen.
Es scheint mir aber eher so, dass die Menschen beim Staat Sicherheit suchen: Rechtssicherheit, gerechte Prüfungen, Lebensstatus durch staatliche Prüfungen, Entscheidungsinstanz bei konfliktträchtigen Fragen oder durch Vorschriften. Die Folgen des Experiments könnten zunächst ein starker Rückgang des inneren Friedens und des Bildungsniveaus sein.
Dagegen ist die Waldorfschule seit 100 Jahren angetreten, die Schüler zu dieser Freiheit zu befähigen, dass sie nicht in erster Linie Sicherheit, sondern freie Entfaltung ihrer Kräfte suchen. Gelingt das, so werden sie es an ihre Kinder und deren Umfeld weitergeben, und in vielen Generationen kann sich eine Befreiung vollziehen, die auch ein freies Kulturleben ermöglicht. Innere Freiheit und ein freier Austausch von Erkenntnissen und Impulsen sind die Grundlagen geistiger Entwicklung. Vorschriften und Gesetze schränken diese Entwicklung ein (vielleicht manchmal sogar notwendig).
Aus meinem Erfahrungen, die ich im mehreren Jahren in Schulleiterkonferenzen machen durfte, weiß ich, wie auf dieser Ebene und innerhalb von Ministerien um den richtigen Weg gerungen wird. Der gefundene Weg führt zu Entscheidungen, die dann für viele Schulen und Eltern in Form von Vorschriften verbindlich gemacht werden.
Hoffentlich nicht für Waldorfschulen. Denn es muss möglich sein, dass viele Wege gegangen und ausprobiert werden: Pädagogisch, sozial und wirtschaftlich. Vielleicht war das eine der Ideen des Grundgesetzes.
Und wenn auf diesem Weg neues ausprobiert wurde und wenn es für gut befunden wurde, dann kann es jeder sehen und in seine Wege einbeziehen, wie es ja auch ohne Kontakt mit der Waldorfschule geschehen ist. Im direkten Gespräch könnte es eher um grundlegende Werte und ihre Abwägungen gehen und wie die Begriffe von diesen Werten sich in der Praxis zeigen.
Die Waldorfschulen sind faktisch sehr verschieden. Die Wertentscheidungen wurden zwischen Eltern und Lehrern ausgehandelt und an den freien Persönlichkeiten der Schüler erprobt. Darüber sollte ein Gespräch zwischen kompetenten Menschen möglich sein.
W.-D. Musmann
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Der Text von Frau Andrea Fathy war eine Antwort auf den Artikel von Valentin Wember in der Anthroposophie, der Vierteljahresschrift zur anthroposophischen Arbeit in Deutschland Nr. 291 mit dem Titel Warum freies Geistesleben.